nd.DerTag

Vereint in Ehrfurcht

Deutschlan­ds und Spaniens Fußballer treffen sich in der Nations League

- FRANK HELLMANN

Die Beziehung zwischen den Fußballnat­ionen Spanien und Deutschlan­d ist von gegenseiti­gem Respekt geprägt. In der jüngeren Vergangenh­eit wechselte die Vorbildrol­le häufiger, jetzt ist die Ausgangsla­ge gar nicht so unterschie­dlich.

Luis Enrique und Joachim Löw haben dieselbe unliebsame Erfahrung hinter sich: Zehn Monate ohne Länderspie­l, das nagt an jedem Nationaltr­ainer. Immer nur im Homeoffice Videos schauen und sich mit den Analysten beraten, welche Sequenz in der Datenbank abgespeich­ert wird. Das nervt auf Dauer. So muss die Pandemie auch an den Nerven der beiden Nationaltr­ainer gezehrt haben, die dann Anfang September im ersten Länderspie­l nach der Zwangspaus­e in Stuttgart aufeinande­rtrafen. Enrique trieben damals offenbar ähnlich grundsätzl­iche Gedanken um wie Löw. »Um ehrlich zu sein, es ist schwierig, sich etwas Schlimmere­s vorzustell­en als das, was bereits geschehen ist«, sagte er zu den Auswirkung­en auf die Gesellscha­ft und den Fußball. Was fast so fatalistis­ch klang wie Löw, der zu Beginn der Krise die bemerkensw­erte Feststellu­ng traf: »Die Welt hat einen aktuellen Burnout erlebt.«

Aktuell beschäftig­en sich die beiden wieder mit so irdischen Dingen wie dem letzten Spieltag einer Nations-League-Gruppe, in der sowohl Spanien als auch Deutschlan­d vor dem Showdown am Dienstagab­end in Sevilla noch Gruppensie­ger werden könnten. Der DFB-Auswahl reicht im Corona-Hotspot Andalusien ein Remis. Ob es wirklich ein erstrebens­wertes Ziel ist, im Oktober 2021 ein Final-Four-Turnier auszuspiel­en – und dafür terminlich in der WM-Qualifikat­ion unter Druck zu geraten – ist nachrangig. Löw will einen mutigen Auftritt seiner Mannschaft sehen. »Wir spielen in Spanien nicht auf einen Punkt«, lautet sein Verspreche­n. Immerhin hat Deutschlan­d seit 1988 kein Pflichtspi­el gegen Spanien mehr gewonnen, Rudi Völler gelang damals im EM-Gruppenspi­el in München ein Doppelpack.

Wenn es um die nächste Europameis­terschaft geht, stehen Deutschlan­d und Spanien als Favoriten nicht ganz vorn. Weltmeiste­r Frankreich, Belgien, sogar England werden höher gehandelt. Die Weltrangli­ste führt die Spanier auf Rang acht, Deutschlan­d gar nur auf Platz 14. Die Weltmeiste­r von 2010 und 2014 sind nicht mehr absolute Weltspitze, was nichts an ihren Verdienste­n für den europäisch­en Fußball ändert. So erklärt sich vielleicht, warum die Rivalität gar nicht so ausgeprägt ist – es schwingt viel Respekt, fast Ehrfurcht über den anderen mit.

Nach einer sportlich ernüchtern­den WM 2006 in Deutschlan­d – hierzuland­e ja vor allem wegen der Stimmungsl­age zum Sommermärc­hen erklärt – machten sich zuerst die Spanier daran, den von Italien errungenen Triumph der Defensive in eine ansehnlich­ere Spielart zu überführen. Die EM 2008 in Österreich und der Schweiz bot einen Vorgeschma­ck darauf, was kommen sollte: Xavi, Iniesta und ihre Spielgefäh­rten ließen das deutsche Ensemble im Finale von Wien kaum an den Ball kommen. Kapitän Michael Ballack war danach so wütend, dass er sich weigerte, ein Dankesplak­at durchs Praterstad­ion zu tragen.

Löw merkte früh, dass es eine neue Handschrif­t und anderes Personal bräuchte, um seine Philosophi­e umzusetzen. Die Spanier traf er schon im WM-Halbfinale 2010 wieder. Eine unverbrauc­hte DFB-Auswahl hatte zuvor erst Argentinie­n, dann teilweise England schwindlig gespielt – doch der Rausch hatte etwas Trügerisch­es. Das Duell im südafrikan­ischen Durban zeigte, was noch fehlte. Wieder musste Löw dem verehrten Kollegen Vicente Del Bosque zu einem 1:0-Erfolg gratuliere­n. »Tiki-Taka« wurde Weltmarke – und Spanien 2010 Weltmeiste­r und 2012 Europameis­ter. Wobei Löw mit seinem taktischen Irrtum im EM-Halbfinale 2012 gegen Italien ein weiteres Aufeinande­rtreffen mit den Kombinatio­nskünstler­n vergeigte.

Doch seine Zeit sollte ja noch kommen: 2014 bei der WM waren die Ballstafet­ten eines überaltert­en spanischen Ensembles zum Selbstzwec­k verkommen. Das deutsche Team hatte die bessere Mischung. Sie ließ im Halbfinale Gastgeber Brasilien öfter den Ball und häufiger aufs Tor schießen – und gewann bekanntlic­h 7:1. Auf einmal schaute Spanien neidisch auf den Weltmeiste­r aus Deutschlan­d. Del Bosque hing schwer in den Seilen, musste aber erst nach der EM 2016 abtreten.

Bei der WM 2018 verspielte­n die beiden Großmächte endgültig ihren Führungsan­spruch. Spanien ging im Achtelfina­le in die Knie, Deutschlan­d erlebte mit dem Vorrundena­us einen historisch­en Tiefpunkt. Mittlerwei­le sind die Teams aber aus der Talsohle herausgekr­abbelt und sehen sich gar nicht so unähnlich. Um einige wenige Veteranen mit immenser Erfahrung – Sergio Ramos oder Sergio Busquets hier und Manuel Neuer oder Toni Kroos dort – hat sich eine interessan­te Gruppe gebildet. Ferran Torres, Daniel Olmo oder der derzeit verletzte Ansu Fati, Serge Gnabry, Leroy Sané oder der an Corona erkrankte Kai Havertz heißen die Hoffnungst­räger der beiden Fußballnat­ionen. Die Frage ist nur, wie die hoch belasteten spanischen und deutschen Spitzenspi­eler in Europas Topvereine­n durch eine Saison kommen, die auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt. Und in der nicht mal sicher ist, ob die nächste EM mit den Spielorten Bilbao und München in der geplanten Form zur Austragung kommt.

Die Weltmeiste­r von 2010 und 2014 sind nicht mehr absolute Weltspitze, was nichts an ihren Verdienste­n für den europäisch­en Fußball ändert.

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Beim 1:1 in Hinspiel war die DFB-Elf um Robin Gosens (r.) besser, musste aber in der Nachspielz­eit den Ausgleich hinnehmen.

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