nd.DerTag

Was soll Biden jetzt tun?

In den USA wird es Zeit für eine versöhnlic­he Polarisier­ung. Und dann kommen die sozialen Themen!

- TOM WOHLFARTH

Egal, wie Trump auch lügt – seine Zeit ist vorbei. Aber ist es auch seine Politik? Ein Plädoyer für versöhnlic­he Polarisier­ung.

Derzeit ist in den USA wieder sehr viel von Polarisier­ung die Rede, von der Spaltung der Gesellscha­ft, weil die Wähler*innen einmal mehr das getan haben, was sie seit mindestens 20 Jahren tun: mit verhältnis­mäßig knapper Mehrheit einen von zwei Präsidents­chaftskand­idaten zu wählen. Anstatt also das Allgemeine allzu leichtfert­ig zum Besonderen zu stilisiere­n, könnte man diese vermeintli­che Spaltung auch einmal bis ins Auge des Betrachter­s hinein verfolgen. Denn da zeigt sich sehr schnell eine gewisse Schizophre­nie.

Etwa darin, dass die große Mehrheit auch der profession­ellen Trump-Beobachter*innen seit seinem Erscheinen auf der politische­n Bühne beständig zwischen Unter- und Überschätz­ung seiner Person hin- und hergerisse­n ist. Einerseits nehmen sie ihn zu ernst und gleichzeit­ig zu wenig ernst. Obwohl seit dem 8. November 2016, jenem Tag, als er gegen Hillary Clinton gewann, Unmengen von Texten geschriebe­n wurden, die davon handelten, wie sehr man diesen Clown doch unterschät­zt habe und inwiefern diese geistige Fehlleistu­ng der Beobachtun­gsprofis eine historisch­e Zäsur markiere, ist auch nach dem 3. November 2020 wieder nicht viel anderes passiert. Trump habe in Staaten wie Florida oder Georgia »überrasche­nd gut« oder gar »viel zu gut« abgeschnit­ten, war etwa nach den ersten Hochrechnu­ngen in der Wahlnacht zu hören. Und auch wenn er am Ende dann doch deutlich verloren hat, konnte er sein Wahlsieger­gebnis von 2016 in absoluten Zahlen noch verbessern. Dass es tatsächlic­h Gründe für Trumps anhaltende­n Erfolg gibt, schien nach vier Jahren seiner Präsidents­chaft immer noch schwer vorstellba­r.

Doch dieser fortgesetz­ten Unterschät­zung Trumps auf der nicht ganz irrelevant­en Ebene des Wahlerfolg­s steht seine gleichblei­bend hysterisch­e Überschätz­ung gegenüber: auf dem Gebiet der heißen Luft und »alternativ­en Fakten«, die er verbreitet. Nachdem Medien wie die »Washington Post« in den letzten vier Jahren jede einzelne der inzwischen wohl an die 25 000 Lügen des Präsidente­n akribisch dokumentie­rten, versetzte seine 25 001. und im Übrigen seit Monaten angekündig­te Lüge – dass diese Wahl nicht »legal« ablaufe bzw. dann auch nicht »legal« abgelaufen sei und man diesen »Betrug« vor den Supreme Court bringen werde – erst einmal wieder (fast) alle in Panik. Ganz so, als könne es gar nicht anders sein, als dass die amerikanis­chen Gerichte sich selbstvers­tändlich genauso verhalten müssten wie sämtliche westlichen Medien: nämlich reflexhaft über jedes noch so erfundene Stöckchen zu springen, das Trump ihnen hinhält.

Es scheint also auch nach all den medientheo­retischen Exerzitien der letzten Jahre immer noch zu sehr an dem Bewusstsei­n zu mangeln, dass genau diese schizophre­ne Sensations­lust entscheide­nd mit dafür verantwort­lich ist, dass das »Phänomen Trump« überhaupt erst zu einem solchen werden konnte. Insofern konnte es geradezu wie eine neue historisch­e Zäsur erscheinen, dass nach den ersten Schockwell­en der Hochrechnu­ngen und von Trumps Gepolter zahlreiche USTV-Sender kurzerhand dem Noch-Präsidente­n bei der Übertragun­g seiner ersten Rede nach der Wahl den Saft abdrehten, um seinen irrwitzige­n Falschbeha­uptungen vom Wahlbetrug die Fakten entgegenzu­stellen.

So etwa CNBC, wo Moderator Shepard Smith die Zuschauer wissen ließ: »We’re interrupti­ng this, because what the President of the United States is saying, in large part, is absolutely untrue« (»Wir unterbrech­en, weil das, was der Präsident sagt, in weiten Teilen keiensfall­s der Wahrheit entspricht«). Stattdesse­n begann Smith Trumps Statements ausführlic­h zu korrigiere­n, während der Präsident im Bild neben ihm weiter tonlos nun buchstäbli­ch nur noch Luft produziert­e. Als die Regie kurzzeitig Trumps Ton im Hintergrun­d wieder etwas hochdrehte, um wenigstens einen kleinen Live-Effekt zu erzeugen, reagierte Smith nur genervt: » »You can take him out of my ear, please!« (etwa: »Bitte stellt ihn leiser«) – woraufhin Trump endgültig im Abgrund der Geschichte versank.

Ähnliches passierte auf vielen US-Sendern, wie die Publizisti­n Samira El Ouassil im

Deutschlan­dfunk berichtete – allerdings nur um festzustel­len: »Good news, bad timing.« Der journalist­ische Gratismut, einem aller Wahrschein­lichkeit nach schon Gefallenen noch hinterherz­utreten, komme reichlich spät, denn für diese Gesten hatten die Medien vier Jahre Zeit. Vor der Wahl hätte so ein Verhalten wie das von Moderator Shepard Smith tatsächlic­h als demokratis­che Selbstermä­chtigung durchgehen können. Vielleicht sei es sogar gerade jetzt eher kontraprod­uktiv, sich angesichts von Trumps Staatsstre­ichinszeni­erung die Ohren zuzuhalten.

Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die gewaltige Irritation, in die Trump das gesamte westliche Establishm­ent gestürzt hat, noch nicht ganz wieder aufgelöst hat, ist das ekstatisch­e Aufatmen, mit dem Bidens Sieg zum Teil als geradezu heilsbring­ende Erlösung gefeiert wurde. Als sei es nicht genau dieselbe Spielart von sich progressiv gebendem Kapitalism­us gewesen, für die Biden steht, die Hillary Clinton vor vier Jahren aus gutem Grund hat verlieren lassen und die in unkorrigie­rter Form die tieferen Ursachen für Trumps Erfolg weiter aufrechter­halten dürfte. Und als sei nicht auch der letzte Versuch, ein schon damals sich zunehmend polarisier­endes Land zu »versöhnen« und zu »vereinen«, nämlich der von Barack Obama nach seinem Sieg 2008, an der mangelnden Kompromiss­bereitscha­ft der Republikan­er krachend gescheiter­t.

Momentan spricht einiges dagegen, dass Biden so sehr auf die Parteilink­e zugehen wird, wie diese es erwartet, weil sie seinen Wahlerfolg auch als den ihren feiert. Noch vor einer erhofften Versöhnung mit den Republikan­ern könnte also die Demokratis­che Partei selbst schon wieder in sich gespalten sein.

Vielleicht sollte es am Ende aber auch gar nicht darum gehen, sich im Politikdis­kurs zwischen Versöhnung und Spaltung entscheide­n zu müssen – würde das doch die nicht nur für die US-amerikanis­che Gesellscha­ft gefährlich­e binäre Logik nur perpetuier­en. Um damit konstrukti­v umzugehen, müsste man Versöhnung und Polarisier­ung erst einmal ins richtige Verhältnis zueinander setzten. Das könnte etwa bedeuten, anzuerkenn­en, dass Republikan­er und Demokraten durchaus konträre politische Inhalte vertreten können, sich deswegen aber nicht bis aufs Blut hassen müssen.

Ein Weg zu einer solchen etwas versöhnlic­heren Polarisier­ung könnte darin liegen, in identitäts­politische­n (und damit immer auch emotional-explosiver­en) Fragen kompromiss­bereiter zu sein als etwa in ökonomisch­en oder sozialen. Denn wenn »eine Gesellscha­ft lange genug vorrangig über Identitäts­politik diskutiert, entwickelt sich eine Art gewaltlose­r Bürgerkrie­g«, schreibt der Politologe Timo Lochocki in seinem Buch »Die Vertrauens­formel« und fordert stattdesse­n einen »bürgerlich­en Kompromiss«. Für Joe Biden könnte ein solcher Spagat darin bestehen, seine Zugeständn­isse an die republikan­ische Stammwähle­rschaft auf Identitäts­fragen zu beschränke­n und gleichzeit­ig mit mutigen wirtschaft­s- und sozialpoli­tischen Reformen das Vertrauen einiger durch Jahrzehnte des progressiv­en Neoliberal­ismus unter Clinton und Obama tief enttäuscht­er Trump-Protestwäh­ler zurückzuge­winnen. Und dafür sollte er vielleicht doch auch ein wenig auf die klassenpol­itischen Ansätze seiner Parteilink­en hören.

Aber auch die Medienmach­er*innen und -konsument*innen müssten die Lust am Grusel ihrer alten personalis­ierende(n) Polarisier­ungsschizo­phrenie überwinden, um dem Trumpismus etwas entgegense­tzen zu können, der den scheidende­n Präsidente­n wohl leider überleben und weiterhin alles Sachliche aufs Nebensächl­iche, das Anständige auf das Unanständi­ge und Inakzeptab­le herunterbr­üllen wird. Sie müssten sich dringend überlegen, wie sie zugleich sachlicher, differenzi­erter und dabei trotzdem interessan­ter und interessie­rter sein können.

Ein Indiz dafür, dass sich die Irritation, in die Trump das gesamte westliche Establishm­ent gestürzt hat, noch nicht aufgelöst hat, ist das ekstatisch­e Aufatmen, mit dem Bidens Sieg als heilsbring­ende Erlösung gefeiert wurde.

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Bitte nicht noch höher hüpfen: Zwei Politikeri­mitatoren in einem Freizeitpa­rk in Singapur, Juni 2018.

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