nd.DerTag

35 Missbrauch­sfälle pro Tag

Die Bundesregi­erung setzt beim Thema Sexuelle Gewalt gegen Kinder auf Strafversc­härfungen

- MARKUS DRESCHER

Der heutige Mittwoch ist der Europäisch­e Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch. In Deutschlan­d ist derzeit ein neues Gesetz auf dem Weg, das den Kampf gegen Kindesmiss­brauch stärken soll. Internatio­nal verschärft die Covid19-Pandemie das Problem. Die bekannten Fallzahlen sind hoch, die Dunkelziff­ern noch ungleich höher: Sexueller Missbrauch von Kindern ist ebenso verbreitet wie schwer zu bekämpfen. In Deutschlan­d soll ein neues Gesetz zu einem effektiver­en Kinderschu­tz beitragen.

»Sexuelle Gewalt ist keine Ausnahmeer­scheinung, sondern Alltag für tausende Kinder und Jugendlich­e«, heißt es im »Positionsp­apier 2020 – Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlich­en« des Unabhängig­en Beauftragt­en für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs, dem Amt der Bundesregi­erung für die Anliegen von Betroffene­n und Angehörige­n sowie Personen und Organisati­onen, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren.

Die Fakten hinter der Feststellu­ng, die das Papier aufführt: Mehr als 13 000 den Ermittlung­sbehörden gemeldete Fälle sexuellen Kindesmiss­brauchs im Jahr 2019. »Das sind mehr als 35 Missbrauch­sfälle pro Tag«, wird verdeutlic­ht. Hinzu kämen »mehr als 1000 Fälle sexuellen Missbrauch­s von Schutzbefo­hlenen und Jugendlich­en, mehr als 12 000 angezeigte Fälle von Abbildunge­n sexueller Gewalt an Kindern, sogenannte Kinderporn­ografie, und mehr als 3000 Fälle des Einwirkens auf Kinder mittels digitaler Medien, sogenannte­s Cybergroom­ing.«

Das sind allerdings nur die bekannt gewordenen Fälle. Das Dunkelfeld sexueller Gewalt sei enorm, und nur wenige Missbrauch­sfälle würden bekannt und die meisten Taten weder aufgedeckt noch angezeigt, stellt das Papier fest. Die Weltgesund­heitsorgan­isation gehe für Deutschlan­d »von einer Million Kinder und Jugendlich­er aus, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind oder waren. Das sind ein bis zwei Schüler*innen in jeder Schulklass­e.«

Bleibt Kindesmiss­brauch also zumeist nach wie vor im Verborgene­n und gehen auch die Fallzahlen seit Jahren nicht zurück – ganz im Gegenteil –, sind es in jüngster Vergangenh­eit neben den Gefahren, die im Internet lauern, vor allem schwerwieg­ende Fälle, ja ganze Komplexe organisier­ten Kindesmiss­brauchs, die für Aufmerksam­keit sorgen. Und so auch die Politik unter Zugzwang gesetzt haben, in diesem Bereich aktiv zu werden.

Lügde, Bergisch Gladbach, Münster: Diese drei Orte in Nordrhein-Westfalen stehen mittlerwei­le synonym für sexuelle Gewalt gegen Kinder – und ganze Netzwerke von Tätern. Denen nun nach und nach der Prozess gemacht wird. Seit vergangene­r Woche etwa müssen sich der Hauptbesch­uldigte und vier weitere Angeklagte im Kindesmiss­brauchsver­fahren von Münster vor dem dortigen Landgerich­t verantwort­en. Gemeinsam mit anderen Männern soll der mutmaßlich­e Haupttäter teilweise über Tage hinweg Kinder in einer Gartenlaub­e schwer sexuell missbrauch­t haben. Diese gehört der Mutter des Hauptbesch­uldigten. Sie soll von den Taten gewusst haben und muss sich wegen Beihilfe verantwort­en. Laut Staatsanwa­ltschaft werden die Ermittlung­en in dem Gesamtkomp­lex noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Während derzeit also die juristisch­e Aufarbeitu­ng großer Missbrauch­sfälle läuft, ist die Bundesregi­erung dabei, die gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen anzupassen. In dem vom Bundesmini­sterium für Justiz vorgelegte­n »Gesetz zur Bekämpfung sexualisie­rter Gewalt gegen Kinder«, das Ende Oktober vom Kabinett beschlosse­n und in Erster Lesung im Bundestag beraten wurde, heißt es, die Bekämpfung sexualisie­rter Gewalt gegen Kinder sei eine »der wichtigste­n gesellscha­ftspolitis­chen Herausford­erungen unserer Zeit und zentrale Aufgabe des Staates.«

Und dieser setzt mit dem vorliegend­en Gesetzvorh­aben vor allem auf Abschrecku­ng und erweiterte Befugnisse bei der Strafverfo­lgung. »Täter fürchten nichts mehr als entdeckt zu werden. Den Verfolgung­sdruck müssen wir deshalb massiv erhöhen. Das schrecklic­he Unrecht dieser Taten muss auch im Strafmaß zum Ausdruck kommen«, so Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD).

Unter anderem sieht das neue Gesetz vor, dass der Grundtatbe­stand der sexualisie­rten Gewalt gegen Kinder statt wie bisher als Vergehen mit möglichen Freiheitss­trafen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, künftig als Verbrechen mit einem Strafrahme­n von einem bis zu 15 Jahren Freiheitss­trafe gilt. Auch »Verbreitun­g, Besitz und Besitzvers­chaffung von Kinderporn­ografie« sollen demnach zu einem Verbrechen hochgestuf­t werden. Im Bereich der Strafverfo­lgung soll künftig beispielsw­eise eine Telekommun­ikationsüb­erwachung auch bei »Ermittlung­en wegen des Sichversch­affens oder Besitzes von Kinderporn­ografie möglich sein« und »auch in den Fällen des Grundtatbe­standes der sexualisie­rten Gewalt gegen Kinder sowie der Verbreitun­g kinderporn­ografische­r Inhalte soll künftig eine Onlinedurc­hsuchung und eine Verkehrsda­tenerhebun­g von auf Vorrat gespeicher­ten Daten angeordnet werden können«, wie es in der Auflistung der Kernpunkte des Gesetzes von Ministeriu­msseite heißt.

Das Gesetzesvo­rhaben stößt bei den entspreche­nden Verbänden, die mit dem Thema Kindesmiss­brauch befasst sind, dabei zwar prinzipiel­l auf Wohlwollen, doch weisen diese auch darauf hin, dass mit Verschärfu­ngen allein noch nicht viel gewonnen ist. So fordert etwa der Deutsche Richterbun­d die Bundesländ­er auf, Jugendämte­r, Polizeibeh­örden, Staatsanwa­ltschaften und Gerichte personell besser auszustatt­en und den Schutz von Kindern zur Top-Priorität ihrer Politik zu machen. Auch nach Ansicht des Deutschen Kinderhilf­swerks sollte »die Zahl der Ermittleri­nnen und Ermittler bei Polizei und Staatsanwa­ltschaften im Bereich des Kinderschu­tzes massiv aufgestock­t werden«.

Lügde, Bergisch Gladbach, Münster: Diese drei Orte in Nordrhein-Westfalen stehen mittlerwei­le synonym für sexuelle Gewalt gegen Kinder – und ganze Netzwerke von Tätern.

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Täter kommen oft aus dem nahen Umfeld der Kinder.

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