nd.DerTag

Austausch der Symbole

Die Ukraine verabschie­det sich von Zeichen und Bezeichnun­gen der Sowjetunio­n, teils zweifelhaf­te Helden treten an ihre Stelle

- STEFAN SCHOCHER

Die Ukraine ist auf ihrem Weg in Richtung Westen um Distanzier­ung von Russland bemüht. Was »Entkommuni­sierung« genannt wird, ist von einer Revision der bisherigen Geschichts­schreibung begleitet.

Wo einst ein rosa-marmorner Lenin im Zentrum Kiews thronte, steht heute nur mehr der Sockel. Künstler verwenden ihn für ihre Installati­onen, immer wieder dient er auch als Podest für Fotoshooti­ngs. Ein paar Straßen weiter führte einst die Krasna Armenskaja, die Straße des roten Armenien, aus dem Zentrum in die Vororte der Stadt. Heute heißt sie Velika Vasilkivka. Und das Ende des Zweiten Weltkriege­s wird nicht mehr am 9. Mai wie in Russland, sondern am 8. Mai gefeiert. Und überhaupt: Vom Zweiten Weltkrieg wird gesprochen, nicht mehr vom Großen Vaterländi­schen Krieg.

Kommunisti­sche Symbolik ist verschwund­en aus der Öffentlich­keit der Ukraine. Das ist nicht Zufall oder Fügung. Es ist Folge bewusst getroffene­r politische­r Entscheidu­ngen. Nach der Revolution 2014 beschloss die neue ukrainisch­e Regierung, man müsse sich, auch was die Deutung der Geschichte betrifft, aus dem Orbit Moskaus lösen und die Hoheit über seine Geschichts­schreibung in die eigenen Hände nehmen. 2015 beschloss das Parlament eine Reihe von Gesetzen, die als Dekommunis­ierungs-Paket bekannt wurden. Seither wurden Straßen und Orte umbenannt, Denkmäler entfernt. Neue Denkmäler hingegen gehen meist auf lokale Initiative­n zurück.

Alina Shpak war Vizedirekt­orin des Nationalen Instituts für Erinnerung, einer 2015 im Zuge dieser Gesetze ins Leben gerufenen Institutio­n. Das Institut sollte einen Katalog für Straßen, Plätze und Orte erarbeiten, die umbenannt oder auch entfernt werden sollten. Bei der Dekommunis­ierung geht es Alina Shpak im Rückblick weniger um Symbole, die aus dem öffentlich­en Raum zu verdrängen waren, sondern um eine grundlegen­de Veränderun­g der Struktur der Gesellscha­ft. Eine grundlegen­d neue Geschichts­schreibung war hierfür Voraussetz­ung.

»Wir hatten rund 100 Orte, die nach Lenin benannt waren, in der Ukraine. All diese Leninka, Leninske, Uljanovka ... Können sie sich die Landkarte der Ukraine vorstellen?«, fragt sie. Die Ukraine habe die höchste Lenin-Rate pro Einwohner im Vergleich aller Sowjetrepu­bliken gehabt. »In Dnjepropet­rowsk konnte man über den Leninplatz gehen, die Leninstraß­e runter, dann kam man zur Leninbrück­e, von wo aus man eine Fabrik sah, die nach Lenin benannt war.« Doch es geht nicht um Formales. Es gehe um die Werte, für die Lenin stand, sagt sie.

Und das gilt nicht nur für Lenin. Dnjepropet­rowsk heißt heute nur noch Dnipro. »Petrowsk« wurde im Zuge der Entkommuni­sierung gestrichen. Für Alina Shpak ist Dnepropetr­owsk das Paradebeis­piel der historisch­en Umbewertun­g. Denn hierbei handele es sich um ein »historisch­es Paradoxon«. Den Parteifunk­tionär und Namenspatr­on Grigori Petrowski nennt sie »eines der bösen Genies des Holodomor«.

Die Geschichte der Ukraine ist eine voller Traumata. Unaufgearb­eiteter Traumata. Und der Holodomor ist darunter das größte Trauma. Im Zuge der sowjetisch­en Kollektivi­erungsmaßn­ahmen im Landbau verhungert­en 1932 und 1933 an die sieben Millionen Menschen alleine in der Ukraine. Hungersnöt­e gab es in der jungen Sowjetunio­n anderswo auch, hier allerdings war das Ausmaß am größten. Inwieweit die Hungersnot Folge einer fehlgeleit­eten Wirtschaft­spolitik (Nahrungsbe­schaffung für die Städte) war oder eine gezielte Aktion zur Aushungeru­ng der latent antisowjet­isch eingestell­ten und rebellisch­en ukrainisch­en Landbevölk­erung, ist Gegenstand eines heftig ausgetrage­nen Deutungska­mpfes. Es gibt zumindest starke Hinweise, dass die Sowjets den Tod von Millionen Ukrainern wissentlic­h und bewusst hinnahmen.

Man führe sich vor Augen: Kaum ein Jahrzehnt zuvor war die Ukraine Schauplatz verbissene­r Kämpfe zwischen Konterrevo­lutionären und Sowjetmach­t gewesen. Zwischen Sowjets und Anarchiste­n, Anarchiste­n und Konterrevo­lutionären, Menschewik­i und Bolschewik­i, Nationalis­ten und Bolschewik­i, Sowjets und Polen. Auf einem Schlachtfe­ld, auf dem die sowjetisch­e Herrschaft binnen weniger Jahre gleich mehrmals auf der Kippe stand. Durchsetze­n konnten sich die Sowjets lange Zeit bestenfall­s in den Städten und entlang der strategisc­h wichtigen Bahnlinien – und auch das nur mit Brachialge­walt. Das Land aber, die weite Steppe, die blieb, wie sich herausstel­lte, noch bis in die späten 50er Jahre renitent und zum Teil unkontroll­ierbar. In diesem Klima fand er statt, der Holodomor.

»Einen großen Teil der Opfer gab es ausgerechn­et in der Region Dnepropetr­owsk« so Shpak. Gerade sie, in der es so viele Opfer gab, war nach einem Kommuniste­n und Vollstreck­er des Willens der Sowjetmach­t benannt. Shpak dazu: »Wie sollen wir das unseren Kindern erklären? Es ist okay, dass wir Menschen zu Tode hungern?«

Vor allem bei diesem sensiblen Themenbere­ich, dem Holodomor, fehlte es bisher an wichtigem Quellenmat­erial. Die Deutung der Ursachen jener Hungersnot war nicht zuletzt auch zwischen Kiew und Moskau ein Politikum. Russland spricht von einer Katastroph­e ohne bewusste Absicht im Zuge von Kollektivi­erungsmaßn­ahmen. Kiew hingegen spricht von einem gezielt verübten Genozid. Die Quellenlag­e war dünn. Dabei lagen viele Dokumente gleich im Zentrum Kiews – allerdings unter Verschluss des Geheimdien­stes.

Diese Archive wurden 2015 geöffnet – ein in der Geschichts­forschung des Landes neuralgisc­her Punkt, wie Alina Shpak sagt. Denn die Dokumente zeichneten nicht nur das Bild, wie der Holodomor abgewickel­t wurde, sondern auch, wie die sowjetisch­e Propaganda sich dem Thema widmete und die Erinnerung an das Massenster­ben über die Jahrzehnte manipulier­t und geformt hat.

Vor 2015 hatte sich die offizielle Geschichts­schreibung der Ukraine mehr oder weniger an den von Russland vorgegeben­en Narrativen orientiert. Damit ist es jetzt vorbei. Aber wird die Geschichte umgeschrie­ben, wie Kritiker und vor allem auch Russland meinen? Wird sie neu interpreti­ert? Manipulier­t? Alina Shpak dazu: »Wir schreiben ukrainisch­e Geschichte. Es waren die Sowjetunio­n und Russland, die unsere Geschichte umgeschrie­ben haben, jetzt schreiben wir sie selbst. Bisher hatten wir nur Bruchstück­e an Informatio­nen.«

Die Basis all dessen ist das Gesetzespa­ket aus dem Jahr 2015. Darin werden das Naziund das Sowjetregi­me verurteilt und gleichgese­tzt. Nazi- und Sowjet-Symbolik sowie -Propaganda sind gleicherma­ßen verboten. Und auch die sowjetisch­en Namensgebu­ngen zählen dazu.

Moskau beobachtet diesen Prozess mit Argwohn und Empörung. Besonders die Rehabiliti­erung ukrainisch­er Unabhängig­keitskämpf­er wie Stepan Bandera sorgt für Unmut. Bandera, ein ukrainisch­er Nationalis­t, kämpfte zunächst in einer Allianz mit den Nazis mit dem Ziel einer Loslösung der Ukraine aus der Sowjetunio­n. Seine Kämpfer zeichnen für zahlreiche Kriegsverb­rechen verantwort­lich. Schließlic­h überwarf sich Bandera aber mit dem Naziregime und landete selbst im KZ-Sachsenhau­sen. Seine Leute splitterte­n sich nach dem Bruch der Organisati­on Ukrainisch­er Nationalis­ten (OUN) und deren militärisc­hen Arms UPA in mehrere Lager auf: darunter sowohl Gruppen, die den Menschewik­i zugerechne­t werden können, als auch die SS-Division Galizien. Ein harter Kern blieb als UPA bestehen und kämpfte zunächst gegen die Wehrmacht und die Nazis sowie polnische Untergrund­gruppen und später bis in die 50er Jahre hinein gegen die Rote Armee und gegen die polnischen Streitkräf­te auf den ehemaligen ukrainisch­en Gebieten, die jetzt Polen zugeschlag­en worden waren.

Bandera steht in der Ukraine heute stellvertr­etend für den Widerstand gegen russische Vereinnahm­ung. Weniger für das, was er getan oder nicht getan hat. An einer kritischen Betrachtun­g von Personen wie Bandera in der Öffentlich­keit mangelt es allerdings grundlegen­d. Wie es aber ein äußerst geschichts­interessie­rter Verleger in Kiew ausdrückt, einer, der nichts gegen die Verwendung von Bandera-Symbolik hat: »Es gibt die Geschichte, und es gibt den Gebrauch der Geschichte, um ein Ziel zu verfolgen. Und wenn Geschichte mit dem Ziel gebraucht wird, einen demokratis­chen, unabhängig­en Staat aufzubauen, sehe ich darin nichts Böses.«

»Wir schreiben ukrainisch­e Geschichte. Es waren die Sowjetunio­n und Russland, die unsere Geschichte umgeschrie­ben haben, jetzt schreiben wir sie selbst.«

Alina Shpak

Frühere Vizedirekt­orin des Nationalen Instituts für Erinnerung

Moskau beobachtet diesen Prozess mit Argwohn und Empörung. Besonders die Rehabiliti­erung ukrainisch­er Unabhängig­keitskämpf­er wie Stepan Bandera sorgt für Unmut.

Eine Haltung, die weit verbreitet ist in der Ukraine. Und eine Haltung, die Bandera- und UPA-Symbolik in der Öffentlich­keit sehr präsent hat werden lassen. Die auch offizielle Verehrung geht so weit, dass Losungen der UPA kritiklos übernommen werden. Ihr Gruß »Slawa Ukrajini« (Ruhm der Ukraine) mit der Antwort »Gerojam Slawa« (Ruhm den Helden) ist heute der offizielle militärisc­he Gruß der ukrainisch­en Streitkräf­te.

Das Dekommunis­ierungsges­etz besage, dass der Kampf der UPA um die Unabhängig­keit legitim war, was aber nicht bedeute, dass jede Aktion legal war, so versucht Shpak zu differenzi­eren. »Es geht in diesem Gesetz nicht darum, eine Person oder eine Organisati­on zu heroisiere­n, es geht darum, die Aktionen dieser Personen oder Organisati­onen anzuerkenn­en und sie zu entkrimina­lisieren.« Denn nach sowjetisch­em Recht habe es sich bei all jenen, die damals für eine unabhängig­e Ukraine eingetrete­n seien, um Kriminelle gehandelt. Streng genommen, galt dies noch bis 2015.

Tatsache ist, dass ein nicht unbeträcht­licher Teil der ukrainisch­en Gesellscha­ft die neue Sicht auf die Geschichte nicht teilt. Als die Aufständis­chen des Maidan 2013 in Kiew die bekannte Lenin-Statue am Bessarabsk­aMarkt stürzten, deren Sockel heute so gerne als Kunstkulis­se benutzt wird, klammerte sich ein alter Mann fast eine Stunde lang an die gefallene Statue, um sie vor Vorschlagh­ämmern und Äxten zu schützen.

2019 kam mit Wolodymyr Selenskyj schließlic­h ein neuer Präsident ins Amt. Einer, dessen Positionen in diesem Feld bis heute unklar sind. Der Tatsache, dass er dieses Thema nie anging, es bis heute meidet, verdankt Selenskyj aber wohl auch einen Teil seiner Popularitä­t. Nicht zuletzt vereinfach­t dieser Umstand auch die Beziehunge­n zu Russland. Alina Shpak befürchtet nun, dass sich der eingeschla­gene Weg einer neuen Erinnerung­spolitik still und heimlich ändern könnte. Nicht zuletzt sieht sie auch die Änderungen in ihrem Institut als einen Hinweis hierfür: Die Führung wurde ausgetausc­ht, auch sie verließ die Institutio­n. »In beiderseit­igem Einverstän­dnis«, wie sie sagt. Überlagert von Corona, der damit einhergehe­nden Wirtschaft­skrise, anderen Skandalen und nicht zuletzt auch von den Ereignisse­n in Belarus ist das Thema der Erinnerung­spolitik derzeit aus der Öffentlich­keit verschwund­en.

Alina Shpak ist jedenfalls sicher, dass ein Dekommunis­ierungs-Paket wie das von 2015 heute nicht mehr angenommen würde. »Wir haben mehr prorussisc­he Abgeordnet­e in der Rada (Parlament, Anm. d. Red.), und wir wissen nicht, was wir von Selenskyj erwarten können«, sagt sie. Während sich Selenskyj zu diesem Thema kaum äußert, ist es derzeit vor allem die Opposition, die laut wird: So trat ein Abgeordnet­er im Frühjahr dafür ein, eine Delegation zu den Feierlichk­eiten des Sieges nach Moskau zu entsenden – am 9. Mai. Und Selenskyj umschifft symbolträc­htige Tage, vermeidet jede Nähe zu Veteranens­trukturen – sowohl jenen der Sowjets als auch der UPA. Immer wieder versucht er symbolisch­e Ausgleichs­aktionen. Aber er scheint es aufgegeben zu haben, den harten Kern der Patrioten überzeugen zu wollen. Denn die marschiere­n zu Ereignisse­n wie dem Unabhängig­keitstag, der die Trennung von der Sowjetunio­n würdigt, bei ihren eigenen Veranstalt­ungen auf und boykottier­en die offizielle­n Zeremonien. So wie auch in diesem Jahr am 24. August geschehen.

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Aktivistin der Femen-Bewegung auf dem Sockel des einstigen Lenin-Denkmals in Kiew

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