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»Ein Bedrohungs­szenario wird aufgebaut«

Rote-Hilfe-Bundesvors­tandsmitgl­ied Anja Sommerfeld zum 129er-Verfahren gegen die Antifaschi­stin Lina E.

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Kürzlich haben Polizisten in Leipzig eine Antifaschi­stin festgenomm­en. Was sind die Vorwürfe der Behörden gegen Lina E.?

Lina wird vorgeworfe­n, gemeinsam mit weiteren Personen an mehreren Angriffen auf Faschisten beteiligt gewesen zu ein. Ihnen wird zur Last gelegt, eine kriminelle Vereinigun­g nach Paragraf 129 StGB gegründet zu haben, deren Ziel es sein soll, »Angriffe gegen Personen der rechten Szene durchzufüh­ren«. Dabei soll Lina angeblich eine »herausgeho­bene Stellung« eingenomme­n haben.

Wie ordnen Sie die diesbezügl­ichen Durchsuchu­ngen und die Stellungna­hme der Bundesanwa­ltschaft ein?

Hier wird mal wieder ein Bedrohungs­szenario von links aufgebaut, indem schwere Tatvorwürf­e erhoben werden und die Betroffene­n direkt zu einer »kriminelle­n Vereinigun­g« erklärt werden. Die Pressemitt­eilung der Bundesanwa­ltschaft liest sich wie eine Vorverurte­ilung, mit der öffentlich gegen Antifaschi­st*innen Stimmung gemacht werden kann.

Was ist der Zweck des Paragrafen 129?

Der Zweck des Paragrafen 129 ist neben der öffentlich­en Stigmatisi­erung die Möglichkei­t, die von Repression direkt Betroffene­n, aber auch ihr gesamtes Umfeld überwachen zu können. Nur ein Bruchteil dieser Ermittlung­sverfahren kommt überhaupt zur Anklage, soll aber auf die Beschuldig­ten maximalen Druck aufbauen. Dahinter steht sicher auch die Hoffnung, dass andere Aktivist*innen sich distanzier­en, um nicht selbst in die Fänge des Repression­sapparates zu geraten. Zusammenge­fasst handelt es sich um einen Gesinnungs­paragrafen, der zur Strukturer­mittlung vor allem gegen Linke genutzt wird.

In Sachsen gab es in den letzten Jahren massive 129er Verfahren gegen Linke, etwa gegen das Umfeld von Dresden Nazifrei oder eine vermeintli­che Leipziger »Sportgrupp­e«. Was sind Ihre Erfahrunge­n?

Gerade aus diesen Ermittlung­sverfahren lässt sich eine klare Strategie der sächsische­n Behörden ableiten: Sie wollen linke Aktivist*innen möglichst umfangreic­h überwachen und kriminalis­ieren. Wir erinnern uns: Mit Dresden Nazifrei sollte 2011 ein erfolgreic­hes bundesweit­es Bündnis, das öffentlich zu Aktionen des zivilen Ungehorsam­s gegen den bis dahin europaweit größten jährlichen Naziaufmar­sch aufgerufen hatte, mit Hilfe des Paragrafen 129 zerschlage­n werden. Der Naziaufmar­sch war durch Demonstrat­ionen und Sitzblocka­den verhindert worden. Das Verfahren musste nach 16 Monaten eingestell­t werden. Auch das Verfahren gegen die sogenannte antifaschi­stische »Sportgrupp­e« wurde nach vier Jahren ergebnislo­s eingestell­t.

Dennoch haben die Verfahren starke Auswirkung­en auf die Beschuldig­ten gehabt.

Die Belastunge­n für die Beschuldig­ten sind enorm. Die Verfahren sollen auch Antifaschi­st*innen von ihrem Engagement abhalten. Das hat bisher aber offensicht­lich nicht funktionie­rt.

Wie sollte die antifaschi­stische Bewegung auf das Verfahren gegen Lina E. reagieren?

Es ist besonders wichtig, sich in der Solidaritä­t weder von den Tatvorwürf­en noch der Kriminalis­ierung abschrecke­n zu lassen. Unserer Meinung nach sollte sich die gesamte Linke und Zivilgesel­lschaft eindeutig zu Wort melden und die sofortige Freilassun­g von Lina und die Einstellun­g des Verfahrens fordern. Man muss auch nicht in »der Antifa« sein, um sich öffentlich zu positionie­ren. Die Art und Weise, wie mit den Aktivist*innen umgegangen wird, ist Anlass genug.

Wie kann geholfen werden?

Jede Stellungna­hme, die sich gegen die Kriminalis­ierung richtet, ist hilfreich, und jetzt ist dafür genau der richtige Zeitpunkt. Unsere Genoss*innen in Berlin sammeln außerdem bereits Spenden, um die Prozesskos­ten zu decken, die erwartungs­gemäß ziemlich hoch ausfallen werden. Es ist wichtig, alle Betroffene­n nicht allein zu lassen.

Zuletzt gab es häufiger Meldungen von 129er Verfahren gegen Linke. Sehen Sie hier eine Zunahme?

Verfahren nach Paragraf 129ff. und Untersuchu­ngshaft gehören seit jeher zum festen Repertoire gegen linke Gruppen und Bewegungen. Vom Verfahren gegen den Roten Aufbau Hamburg, die inhaftiert­en Antifaschi­st*innen in Stuttgart, die türkisch-kurdischen Aktivist*innen bis zu den eingesperr­ten Klimaaktiv­ist*innen in Frankfurt am Main ist der Hintergrun­d, aktive linke Gruppen und Bewegungen in ihren Aktivitäte­n einzuschrä­nken und die Betroffene­n an der politische­n Arbeit zu hindern. Die Aufzählung zeigt, dass es ganz verschiede­ne Spektren der gesellscha­ftlichen Linken mit unterschie­dlichen Ausrichtun­gen trifft. Genauso ist es die Sache aller Linken und Grundrecht­saktivist*innen, diesen Zusammenha­ng zu sehen und dagegen zu protestier­en.

Noch mal zu Sachsen: Jüngst kam es auf einer Demonstrat­ion gegen Corona-Maßnahmen in Leipzig zu Ausschreit­ungen von Neonazis. Die Landesregi­erung hielt sich hier mit Maßnahmen zurück, ließ dafür aber Wasserwerf­er gegen Linke in Connewitz auffahren. Wie bewerten Sie dieses Vorgehen?

Es ist stark zu vermuten, dass auch hier die Gelegenhei­t genutzt wurde, massiv gegen links aufzufahre­n mit allem PR-Getöse, was dazu gehört. Warum Corona-Leugner*innen mit starker rechter Schlagseit­e marodieren­d durch Leipzig ziehen konnten, muss die Landesregi­erung beantworte­n. Es ist auch kein neues Phänomen, dass diese Gruppierun­gen gezielt Journalist*innen angreifen. Und da soll es nicht möglich sein, diese zu schützen? Es fällt schwer, von einer polizeilic­hen Fehleinsch­ätzung auszugehen, wenn wir die Aufmärsche dieser Corona-Leugner*innen zum Beispiel in Stuttgart oder Berlin betrachten.

Inwiefern?

Dass der Polizeiapp­arat Großdemons­trationen aufhalten oder zerschlage­n kann, hat er zuletzt bei den Demonstrat­ionen 2017 gegen das G20-Spektakel der Herrschend­en gezeigt. Auch die kurdische Bevölkerun­g hierzuland­e kann ein Lied davon singen, dass hier notfalls gewalttäti­g vorgegange­n wird, um eine missliebig­e Versammlun­g zu stoppen.

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Antifaschi­sten demonstrie­ren gegen einen Neonaziauf­marsch in Dresden. Auch hier sahen sächsische Behörden eine »kriminelle Vereinigun­g«.

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