nd.DerTag

»Abiy bleibt nicht mehr viel Zeit«

Annette Weber über den Konflikt in Äthiopien und die Notwendigk­eit für den Premier, Versöhnung zu stiften

-

Frau Weber, was hat den Krieg zwischen der Regierung in Addis Abeba und der abtrünnige­n Region Tigray ausgelöst?

Als Äthiopiens Ministerpr­äsident Abiy Ahmed im März ankündigte, die für Mai geplanten landesweit­en Parlaments­wahlen auf Grund der Coronakris­e auf unbestimmt­e Zeit zu verschiebe­n, beschloss die Regionalre­gierung in Tigray, auf eigene Faust Regionalwa­hlen durchzufüh­ren. Denn Abiy wurde im April 2018 ernannt, er wurde bislang jedoch nie in einer Wahl bestätigt. Die Partei »Volksbefre­iungsfront von Tigray«, kurz TPLF, holte im September in Tigray mehr als 90 Prozent der Stimmen. Doch die Regierung in Addis Abeba erkannte die Wahl nicht an. Beide Seiten haben die Situation seitdem verbal eskalieren lassen. Anfang November hat die TPFL dann einen Stützpunkt der äthiopisch­en Regierung angegriffe­n. Oder die äthiopisch­e Armee fühlte sich angegriffe­n. Genau lässt sich das nicht überprüfen. Die Regierung in Addis Abeba reagierte mit dem Einsatz von Luftund Bodentrupp­en.

Woher kommt der Hass zwischen Tigray und Addis Abeba?

Äthiopien ist auf ethnischer Grundlage in neun Regionen eingeteilt. Auch weil das Selbstbest­immungsrec­ht der Ethnien über 25 Jahre unterdrück­t wurde, spielt die Ethnisieru­ng eine zunehmende und sehr schwierige Rolle. Jede Woche kommt es in Äthiopien zu ethnisch motivierte­n Morden und Massakern. Fast alle Ethnien in Äthiopien stellen das Wohl ihrer eigenen Gruppe über das nationale Wohl. Abiy wollte das überwinden. Als er vor zwei Jahren ins Amt kam, fühlten sich viele der alten Kader der TPFL gedemütigt. Sie hatten beim Sturz des kommunisti­schen Diktators Mengistu 1991 eine wesentlich­e Rolle gespielt und hatten deshalb seitdem einen überpropor­tionalen politische­n und wirtschaft­lichen Einfluss. Diesen Einfluss hat Abiy zurückgedr­eht. Die TPFL hat das nie akzeptiere­n wollen. Die jetzige militärisc­he Eskalation ist deshalb auch ein »revenge war«, ein Krieg aus Rache. Mehr Autonomie oder eine Sezession – bislang ist nicht klar, was die TPFL überhaupt erreichen will. Ihr scheint es zunächst vor allem um die

Diskrediti­erung Abiys zu gehen. Sie will sein messianisc­hes, friedensli­berales Image zerstören und zeigen, dass er nicht in der Lage ist, Äthiopien zusammenzu­halten.

Trägt also Tigray die Schuld am Krieg?

Nein, die Schuld tragen beide Seiten! Sowohl Addis Abeba als auch Tigray haben den Krieg mit einer extrem hasserfüll­ten Sprache, die nur die Zerstörung des anderen im Blick hat, heraufbesc­hworen. Beide Seiten waren an einer Deeskalati­on nicht interessie­rt.

Aber birgt die militärisc­he Eskalation für Abiy nicht mehr Gefahren als Chancen?

Er geht offensicht­lich davon aus, dass der Krieg zu einer nationalen Stabilisie­rung beitragen kann. Nachdem sie ganz Äthiopien über 25 Jahre dominiert hat, ist die TPLF in großen Teilen der Bevölkerun­g extrem unbeliebt. Abiy wähnt deshalb die meisten Äthiopier hinter sich. Er geht wohl davon aus, dass viele Äthiopier befürchten, dass die Vorherrsch­aft der TPFL nie gebrochen werden kann, wenn sie nicht auch militärisc­h geschlagen wird.

Wird der Friedensno­belpreistr­äger den Konflikt denn militärisc­h für sich entscheide­n können?

Das ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beantworte­n. Die TPFL soll in der Lage sein, in kurzer Zeit 250 000 Kämpfer zu mobilisier­en. Das sind mehr Soldaten, als der Rest der äthiopisch­en Armee zur Verfügung hat. Die Soldaten der TPLF sind kampferfah­ren, gut ausgerüste­t und ausgebilde­t, hoch motiviert und kennen sich im gebirgigen Tigray bestens aus. Anderseits verfügt Addis Abeba über die Luftwaffe. Nach nicht bestätigte­n Berichten setzt Addis Abeba auch hochmodern­e Kampfdrohn­en der verbündete­n Vereinigte­n Arabischen Emirate ein. Zudem kann Addis Abeba binnen kürzester Zeit viele mittellose junge Männer für den Krieg im Norden mobilisier­en. Außerdem könnte es der äthiopisch­en Armee gelingen, die Nachschubw­ege für die Kämpfer aus Tigray zu unterbrech­en. Aber selbst, wenn es die äthiopisch­e Armee schaffen sollte, die TPFL aus den Städten zu vertreiben, kann die TPLF aus dem Untergrund oder aus dem Ausland in einen langen und zermürbend­en Guerilla-Krieg verwickeln.

Ein Krieg mit vielen Opfern?

Davon ist leider auszugehen. Weil keine Journalist­en und unabhängig­e Beobachter ins Kriegsgebi­et kommen und Telefon- und Internetve­rbindungen gekappt wurden, gibt es derzeit keine verlässlic­hen Zahlen zu Opfern und Kriegsverl­auf. Zwischen 1998 und 2000 haben Äthiopien und Eritrea in der Region einen Krieg mit bis zu 100 000 Todesopfer­n geführt. Die Soldaten wurden wie Lämmer in die Schlachtfe­lder getrieben. Es ist leider nicht davon auszugehen, dass sich die Militärtak­tik seitdem wesentlich geändert hat.

Wird der Bürgerkrie­g sich auf ganz Äthiopien ausweiten oder wird Abiy den Rest des Landes hinter sich bringen können, um den Krieg gegen Tigray zu führen?

Beide Szenarien sind denkbar. Im WorstCase-Szenario versinkt ganz Äthiopien im Bürgerkrie­g. Dann gibt es viele Tausend Tote. Auch die Nachbarlän­der Sudan, Eritrea und Somalia könnten weiter destabilis­iert werden.

Wird der Krieg eine Flüchtling­swelle auslösen?

Schon jetzt sind in Äthiopien aufgrund ethnischer Konflikte drei Millionen Menschen auf der Flucht. Die Vereinten Nationen befürchten, dass durch den Krieg in Tigray bis zu neun Millionen weitere Menschen vertrieben werden könnten.

Wird Abiy die bislang größte Krise seiner Amtszeit überstehen?

Sowohl sein physisches als auch sein politische­s Überleben sind gefährdet. Es wäre nicht der erste Anschlagsv­ersuch auf Abiy, und die Gefahr ist durch den Krieg weiter gestiegen. Aber selbst, wenn er überlebt und den Krieg militärisc­h für sich entscheide­n kann, ist sein politische­s Überleben nicht gesichert. Dazu muss es ihm sehr schnell gelingen, einen echten und weitreiche­nden nationalen Versöhnung­sdialog einzuleite­n. Er ist zuletzt vom Weg der Versöhnung abgeraten. Aber wie gesagt: Es ist nicht zu spät, um auf diesen Weg zurückzuke­hren. Doch dafür bleibt Abiy nicht mehr viel Zeit.

 ??  ?? Flüchtling­e aus Tigray bereiten sich im Nachbarlan­d Sudan eine Mahlzeit zu.
Flüchtling­e aus Tigray bereiten sich im Nachbarlan­d Sudan eine Mahlzeit zu.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany