Die Zeiten der Schande
Der Roman »Ein Mann liest Zeitung« von Justin Steinfeld
Tagaus, tagein sitzt er im Kaffeehaus in Prag, fühlt sich überflüssig und – liest Zeitung. Leonhard Glanz, einst gut betuchter Getreidegroßhändler in Hamburg, ein jüdischer Emigrant ohne alle Aussicht auf eine lebbare Zukunft. Er hat keinerlei Rechte, darf sich nicht einmal eine Arbeit suchen, und so muss er seine Zeit totschlagen. Das Geld reicht gerade für den täglichen Kaffee, den Braunen mit Schlagobers, da bleibt ihm nur die Zeitung: Eine geniale Idee, von der dieser Roman ausgeht. Justin Steinfeld (1886– 1970), Journalist und Autor, Herausgeber einer Wochenzeitung, Theaterkritiker und Mitbegründer eines Schauspielerkollektivs, hat seine eigene Geschichte der Flucht aus Nazideutschland, Verhaftung und Verfolgung, zum Paradigma gemacht, um in einem großen Roman von seiner Hauptfigur Leonhard Glanz zu erzählen. Aus dessen Leben ist jedoch aller Glanz verschwunden, und was er ins Exil retten konnte, ist nichts als sein hellwacher kritischer Geist.
Der Mann also liest die Zeitungen von vorn bis hinten und reflektiert dabei über die »Zeiten der Schande«. Nicht nur die aktuellen Geschehnisse in Hitlers Reich kommen zur Sprache, sondern die gesamte europäische Geschichte, das Münchner Abkommen, der Spanische Bürgerkrieg, an dem die Deutschen mit der Bombardierung und Zerstörung von Guernica tatkräftig beteiligt sind. Leonhard Glanz kommentiert und interpretiert den Inhalt der Zeitungen und durchschaut so die politische Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Er hält sich selbst für einen »durchschnittlichen Mann«, der seine wesentlichen Prägungen im Ersten Weltkrieg erhielt und nun nicht mehr hinters Licht zu führen ist – ein »alter, ehrlicher Getreidehändler«. Jetzt macht er die Grunderfahrung des Exils, ein Unbehauster, ein Paria zu sein, dessen Leben nicht mehr zählt: an den Rand gedrängt. Wer etwas von der Geschichte der 30er und 40er Jahre begreifen will, wie alles gekommen ist und eins aus dem anderen folgte, dem sei diese Lektüre empfohlen. Schonungslos wird die von Hitlerdeutschland ausgehende Barbarei auf Herz und Nieren durchleuchtet.
Das Geld reicht gerade für den täglichen Kaffee, den Braunen mit Schlagobers, und dann bleibt ihm nur die Zeitung.
Leonhard Glanz war – wie sein Autor – ein Theaterbesessener, der neben seinem kaufmännischen Brotberuf am liebsten Theaterkritiken geschrieben und sogar mit auf der Bühne gestanden hat. Aber all das hat man ihm genommen, wie seine Würde, wie seine Zukunft: »Versungen, verklungen, vertan, verweht und vorbei« – wobei »Vorbei!« das dunkle Resümee bildet. In den politisch so chaotischen Endjahren der Weimarer Republik hat sich Justin Steinfeld vehement als Nazigegner zu erkennen gegeben. Öffentlich setzt er sich für Erich Mühsam und Carl von Ossietzky ein. Es war ein konsequent antifaschistisches Engagement. Und dann in der Emigration: Wer setzt sich für ihn ein? Dabei ist er keiner, der jammert oder wehleidig wäre, mitnichten. Dass er sich aus der täglichen Zeitungslektüre das Kaleidoskop einer Welt zusammensetzt, die ungebremst auf die Katastrophe zusteuert, ist durchaus ein widerständischer Akt. »So faul ist die Welt, Leonhard Glanz, in der du lebst.«
Steinfeld ist 1935 ausgebürgert worden. Prag war zunächst durchaus eine Zuflucht – bis zu jener »brutalen Unterbrechung«, dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1939. Kurz darauf gelingt ihm mit Frau und Sohn erneut die Flucht, diesmal nach Polen. Von dort kommt er durch den Einsatz von Hilfskomitees nach England. Er lebt in erbärmlichen Verhältnissen und schreibt seinen Roman »Ein Mann liest Zeitung«. Und so steht am Ende das persönliche Schicksal des einen als Gleichnis für die Schrecknisse des Exils, die Passion des durchschnittlichen Mannes. Ein kalter Wind weht durch diese Bekenntnisse. Sarkasmus als Stilmittel ist seine Überlebenshilfe, um nicht der schieren Verzweiflung zu erliegen. Diesen Roman, erstmals 1984 erschienen, wieder aufzulegen, ist die verdienstvolle Leistung von Herausgeber und Verlag.
Auf Instagram haben Sie geschrieben: »Der Underdog der Szene zu sein, ist zwar total romantisch, dennoch kann man sich davon nicht ernähren.« Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie sich promoten müssen, wenn Sie von der Musik leben wollen?
Justin Steinfeld: Ein Mann liest Zeitung. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wilfried Weinke. Schöffling & Co., 516 S., geb., 28 €. ord Folter aka Julian Wachendorf sitzt im »Sannin«, einem libanesischen Imbiss am Worringer Platz in Düsseldorf, der als der hässlichste Europas gilt. Es gibt libanesische Bouletten für die Almans zum Preis von vier Euro. Nebenan hat Wachendorf zwei Jahre in einem Loft gewohnt, in dem er sich künstlerisch verwirklichen wollte – er studierte Freie Kunst an der Kunstakademie. Aber die Straßen stumpften Wachendorf ab. Der Imbiss sei einer der wenigen Orte gewesen, wo er sich sicher gefühlt habe. Jetzt zieht Wachendorf mit seiner Familie weg.
Sie ziehen bald mit Ihren zwei Kindern und Ihrer Freundin in eine Kleinstadt bei Köln. Was zieht Sie raus aus der Stadt?
Ich bin einfach super sensibel. Mein Kopf ist überlastet. Die Stadt, die ganzen Eindrücke, die Menschen stumpfen mich ab. Ich komme aus Hennef, einer 50 000-Einwohner-Stadt. Alle wollten immer weg da. Ich will wieder hin. Ich möchte klar denken können, und das ermöglicht mir die Stadt nicht mehr. Ich kann mir das Elend nicht jeden Tag vor Augen führen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich in der Ruhe produktiver bin.
Wir sind in derselben Kleinstadt groß geworden. Hat Ihr Aufwachsen in Hennef Einfluss auf Ihre Musik?
Total. Die Zeit im Internat, an der Kunstakademie in Hennef und die Menschen, die mich inspiriert haben. Das sind zum Beispiel Malte Huck, der Bassist von AnnenMayKantereit, mit dem ich zusammenarbeite. Oder Milan Hauke, der als DJ Sex auflegt.
Wie fühlt es sich an, wenn Sie heute nach Hennef zurückkehren?
Komisch. Ich bin aber bis jetzt auch nur einmal im Monat da. Alles verändert sich. Aber ich liebe das Hennefer Umland. Ich habe lange während meines Kunststudiums an der Düsseldorfer Akademie Performances ausschließlich in Wäldern bei Hennef gefilmt.
Wie kam es, dass Sie auf dem neuen Album mit Malte Huck zusammengearbeitet haben?
Wir haben vor Urzeiten mal zusammen in einer Punkband gespielt. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Irgendwann hat mich Malte angerufen und gefragt, ob wir nicht noch mal was zusammen produzieren wollen. Dann haben wir 2018 den Track »Love of my Life« zusammen mit Torky Tork produziert. Seither machen wir immer wieder Musik miteinander. Von Pop über HipHop ist vieles möglich.
Wenn man Untergrund-Hip-Hop macht, ist das eine längerfristige Entscheidung. Deshalb war es auch schon hart zu sagen: Okay, ich mache jetzt musikalischere Sachen. Beziehungsweise: Ich muss es, weil ich einfach Geldprobleme hatte. Ich habe lange Kunst gemacht, das war mein Herzblut. Aber ich habe irgendwann verstehen müssen, dass ich damit kein Geld verdienen werde, mit dem ich eine Familie ernähren könnte.
Können Sie sich heute von Ihrer Musik finanzieren?
Nein, ich arbeite seit sechs Jahren in einer Buchhandlung für 9,85 Euro die Stunde. Bald möchte ich mich noch als Integrationshelfer und Kunstlehrer bewerben. Das ist okay. Ich trage die alten Shirts von meinem Vater, von meiner Mutter wünsche ich mir zu Weihnachten vernünftige Hosen.
Sie machen »Conscious« Rap. Warum?
Ich will, dass im Rap mehr Emotionen angesprochen werden. Die Leute sollen zusammenbrechen dürfen, wenn sie nicht mehr können. Es ist wichtig, dass es so Typen wie mich oder die Jungs von Erotik Toy Records gibt, die ehrlich mit ihrer Sensibilität umgehen und das in ihren Songs verpacken.
Machen Sie das bewusst, also mit einer bestimmten Motivation?
Ich habe das Gefühl, dass meine Musik puristisch sein muss. Das, was ich sage, muss ich wirklich empfinden. Jede Zeile hat mit meinem Leben zu tun. Ich habe das Gefühl, dass das bei der neuen Generation von Rappern verloren geht. Was die machen, ist bloße Verherrlichung von Lifestyle, Modemarken und Drogen. Das ekelt mich an.
Wie sehen Sie Ihre Musik?
Meine Musik ist ein Kunstwerk, nicht nur ein Produkt. Es sollte mit der Kunstgeschichte eher in Verbindung stehen als mit der Musikgeschichte.
Diesen Anspruch haben nicht viele Rapper. Wann haben Sie das erste Mal Texte geschrieben?
Ich habe schon in der 7. Klasse angefangen literarische Texte zu schreiben. Den ersten Rap-Text habe ich mit 18 Jahren geschrieben, am selben Tag habe ich auch das erste Mal aufgenommen. Bis ich dann die ersten Songs gemacht habe, die mir richtig gefallen haben, hat es noch drei, vier Jahre gedauert.
Vor Kurzem haben Sie Ihr neues Album »1992day« rausgebracht. Auf Instagram schreiben Sie, dass Sie die Produktion fürs neue Album fast wahnsinnig gemacht hat, auch im Hinblick darauf, dass Sie sich Druck machen, Erfolg zu haben. Was heißt Erfolg für Sie?
Schwierig. Erfolg fußt auf der Idee, dass man von vielen Menschen gesehen wird und auch eine Sprache spricht, die von vielen Menschen wertgeschätzt wird. Also dass du eine Art Organ bist.
Und wann sind Sie persönlich erfolgreich?
Wenn ich zu Hause sitzen kann, ohne gestresst zu sein. Wenn ich meinen Kindern das bieten kann, was sie brauchen. Und wenn ich ein gutes soziales Umfeld habe. Eigentlich bin ich schon erfolgreich: Ich habe zwar keine Chart-Platzierung, aber das Feedback, das ich zu meinem Album kriege, ist wie Therapie für mich. Ich treffe Leute in ihr Herz.
Was hat Sie zu Ihren neuen Songs inspiriert?
Das sind verschiedene Menschen und Situationen aus meinem Leben. Die Geschichte meines Vaters hat mich zum Beispiel zu »Peacemaker« inspiriert. Mit »11 Semester« habe ich meine Zeit an der Akademie verarbeitet.
Was erhoffen Sie sich von dem neuen Album?
Ich habe schon die Hoffnung, dass ein, zwei Songs mal die Millionen-Grenze knacken. Andererseits habe ich auch keine Lust darauf, die Hörgewohnheiten der Menschen einfach zu bedienen. Mit dem Konflikt muss ich wohl leben.
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