nd.DerTag

Zu allem Übel eine Bombe

Oranienbur­ger Ortsteil muss während des Corona-Shutdowns evakuiert werden

- TOMAS MORGENSTER­N

Es ist die 212. Großbombe seit der Wende, die inmitten von Oranienbur­g unschädlic­h gemacht werden muss. Diese Blindgänge­r sind besonders gefährlich, denn 75 Jahre nach Kriegsende macht sie ihr chemischer Langzeitzü­nder immer unberechen­barer.

Die Stadt Oranienbur­g (Oberhavel) hat sich akribisch auf die größte Evakuierun­gsaktion in Brandenbur­g unter den Bedingunge­n eines Corona-Lockdowns vorbereite­t: Da an diesem Mittwoch im Ortsteil Lehnitz eine USFliegerb­ombe aus dem Zweiten Weltkrieg »neutralisi­ert« werden soll, müssen rund 5500 Menschen ihre Wohn- und Arbeitsstä­tten in einem Sperrkreis im Radius von 1000 Metern um den Fundort der 500-KilogrammB­ombe verlassen und in Notunterkü­nften untergebra­cht werden – unter Wahrung der geltenden Corona-Eindämmung­sverordnun­g.

Wie die Sprecherin der Stadtverwa­ltung Eike-Kristin Fehlauer zu »nd« sagte, wurden die Einwohner in der Gefahrenzo­ne bereits seit Dienstag per Lautsprech­erwagen über die eingeleite­ten Maßnahmen informiert. Lange hatte man im Rathaus beraten, ob angesichts des dynamische­n Infektions­geschehens eine Entschärfu­ng oder gar Sprengung des Blindgänge­rs zu verantwort­en wäre, sich Ende vergangene­r Woche auf Expertenra­t aber anders entschiede­n. Denn es lässt sich nicht ausschließ­en, dass die im Laufe der Jahrzehnte instabil werdenden chemischen Langzeitzü­nder bei der geringsten Bewegung eine verheerend­e Detonation der Bombe auslösen. Letzte Zweifel, ob es sich bei dem auf einem vom Kampfmitte­lbeseitigu­ngsdienst (KBMD) untersucht­en Areal am Inselweg in Havelnähe entdeckten Metallkörp­er tatsächlic­h um eine große Fliegerbom­be handelt, waren am Dienstag ausgeräumt worden.

Die heute rund 45 000 Einwohner zählende Stadt kennt sich mit der explosiven Hinterlass­enschaft des Krieges aus. Mit ihren kriegswich­tigen Rüstungsfa­briken, Verkehrsun­d Forschungs­einrichtun­gen war sie bis 1945 Ziel schwerer alliierter Luftangrif­fe. Bisher wurden offiziell 211 sogenannte Großbomben nach 1990 entdeckt und unschädlic­h gemacht, einige davon auch in Lehnitz. Immer wieder mussten zuvor Tausende Anwohner in Sicherheit gebracht werden. »Wir machen das zwar nicht zum ersten Mal, aber jede Evakuierun­g verläuft anders«, erklärte Sprecherin Fehlau. »Mitunter reicht es, wenn sich noch eine oder zwei Personen unberechti­gt im Sperrkreis aufhalten, dass sich die gesamte Aktion verzögert. Und eine Evakuierun­g unter Corona-Bedingunge­n hatten wir hier tatsächlic­h auch noch nicht.« Zum Beispiel müsse man ja in Rechnung stellen, dass auch im betroffene­n Gebiet derzeit viel mehr Menschen als sonst ihrer Arbeit im Homeoffice nachgehen. Immerhin sei diesmal das Krankenhau­s nicht betroffen.

Nach Behördenan­gaben tritt der festgelegt­e Sperrkreis am Mittwoch um 8 Uhr in Kraft. Von diesem Zeitpunkt an werde er von Feuerwehr und Polizei kontrollie­rt. »Zur Unterstütz­ung wird die Polizei ein Drohnenkom­mando einsetzen, das den Sperrberei­ch mittels Wärmebildk­amera nach etwaigen Personen absucht«, heißt es in einer Mitteilung der Stadt. »Sollte noch jemand im Sperrberei­ch angetroffe­n werden und den Anweisunge­n nicht Folge leisten, drohen Bußgelder bis zu 1000 Euro sowie die Anwendung unmittelba­ren Zwangs durch die Polizei.«

Laut Stadtsprec­herin Fehlauer kommen erfahrungs­gemäß viele Bewohner des Sperrkreis­es

bei Freunden oder Verwandten unter. Für die anderen Betroffene­n habe die Stadtverwa­ltung Notunterkü­nfte eingericht­et – diesmal deutlich mehr als sonst, um die Abstandsun­d Hygienereg­elungen durchsetze­n zu können. Aus diesem Grunde stellt die Stadt auch keine gesonderte­n Shuttlebus­se zu den Anlaufstel­len in vier Sporthalle­n und zwei Bürgerzent­ren bereit. »Die Anlaufstel­len dürfen nur von Personen ohne Krankheits­symptome aufgesucht werden. Während der gesamten Dauer des Aufenthalt­s ist eine MundNasen-Bedeckung zu tragen. Beim Einlass werden die Personalie­n erfasst«, heißt es.

Laut Fehlauer wurden die Hygienekon­zepte der Notunterkü­nfte angepasst, es wird mehrmals stündlich gelüftet und desinfizie­rt. Wer sich dort aufhalten wolle, sei gehalten, sich warm anzuziehen und ausreichen­d Verpflegun­g sowie persönlich­e Medikament­e mitzubring­en, erinnerte sie.

»Immerhin ist es eine gute Nachricht, dass nicht so viele Menschen betroffen sind, die sich wegen Corona in Quarantäne befinden.«

Eike-Kristin Fehlauer

Sprecherin der Stadtverwa­ltung

»Immerhin ist es eine gute Nachricht, dass gar nicht so viele Menschen betroffen sind, die sich wegen Corona in Quarantäne befinden«, so Fehlauer. Nach Angaben des Gesundheit­samtes des Landkreise­s handelte es sich mit Stand Dienstagna­chmittag um zehn infizierte Personen sowie zwölf Kontaktper­sonen ersten Grades. »Für diese Menschen sind individuel­le Lösungen vorbereite­t worden.« Auch einzelne pflegebedü­rftige oder gar bettlägeri­ge Menschen würden mit Krankentra­nsportern zeitweilig zur Betreuung in geeignete Einrichtun­gen gebracht.

Auf die Corona-Pandemie hat sich auch der KBMD einstellen müssen. Für die Entschärfu­ng der Bombe setzen sie auf Hightech – eine Wasserschn­eidanlage schneidet den Zünder erschütter­ungsfrei mit sehr hohem Druck aus deren Gehäuse. Wie Sprecherin Gabriele Krümmel »nd« erläuterte, brauche man für Montage, Justieren und Überwachen der Anlage aber insgesamt sechs Personen vor Ort. »Soweit unmittelba­r an der Bombe gearbeitet wird und die erforderli­chen Abstände nicht eingehalte­n werden können, werden die erforderli­chen Atemschutz­masken getragen«, teilte sie mit.

Bürgermeis­ter Alexander Laesicke (parteilos) macht seinen Oranienbur­gern vorab Mut, mahnte aber dennoch zu Disziplin und Besonnenhe­it. »Wir wissen alle, dass es nicht die erste Bombe ist, die in Oranienbur­g unschädlic­h gemacht wird. Dennoch zieht keine Routine ein. Jedes Mal aufs Neue müssen wir uns sehr gründlich vorbereite­n«, ließ er am Dienstag mit Blick auf die besondere Herausford­erung durch Corona wissen.

Wegen Bauarbeite­n fahren statt der S-Bahn Busse im Schienener­satzverkeh­r. Da der S-Bahnhof Lehnitz im Sperrberei­ch liegt, wird er an diesem Mittwoch während der Bombenents­chärfung nicht angefahren. Die Regionalba­hn wird bis 10 Uhr planmäßig fahren, danach ist der Betrieb unterbroch­en. Geht alles glatt, könnte der Sperrkreis ab 15.30 Uhr aufgehoben werden.

 ??  ?? Sprengmeis­ter Andre Müller (Mi.) und Bürgermeis­ter Alexander Laesicke (l.) im Juli 2019 neben einer baugleiche­n Bombe
Sprengmeis­ter Andre Müller (Mi.) und Bürgermeis­ter Alexander Laesicke (l.) im Juli 2019 neben einer baugleiche­n Bombe

Newspapers in German

Newspapers from Germany