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Späte Aufklärung

Rechtsanwa­lt Miguel Bronfman über den laufenden Prozess zum Anschlag auf das Gemeindeze­ntrum Amia

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Im Fall des antisemiti­schen Anschlags in Argentinie­n auf das Zentrum Amia könnte es nach 26 Jahren eine Verurteilu­ng geben.

Es ist der bis dato schwerste antisemiti­sche Anschlag in Amerika: Bei dem Attentat auf das jüdische Gemeindeze­ntrum Amia in Buenos Aires am 18. Juli 1994 waren 85 Menschen getötet und 300 verletzt worden. Der Gerichtspr­ozess gegen einen wichtigen Verdächtig­en steht kurz vor dem Abschluss. Erklären Sie einem nicht argentinis­chen Publikum: Worum geht es bei diesem Prozess?

In dem Verfahren, das im Mai 2019 begann, geht es um die Verantwort­ung von Carlos Telleldín für den Angriff auf das jüdische Gemeindeze­ntrum Amia. Der Angriff wurde mittels einer Autobombe begangen, was zweifelsoh­ne durch Zeugenauss­agen und verschiede­ne Expertenst­udien belegt ist. Am 25. Juli 1994, sieben Tage nach dem Angriff und als bereits eine beträchtli­che Menge an Trümmern aus dem Gebäude geräumt worden war, fanden israelisch­e Soldaten, die bei der Bergung der Opfer halfen, zusammen mit argentinis­chen Polizisten den Motorblock eines Kleinbusse­s der Marke Renault Trafic. Experten bestätigte­n, dass es sich bei der Autobombe um einen weißen Renault Trafic handelte. Nach der Identifizi­erung des Motors wurde der Eigentümer des Kleintrans­porters zurückverf­olgt, und so kam man auf Carlos Telleldín, der ihn bis zum 9. oder 10. Juli 1994 in seinem Besitz hatte. Bei diesem Prozess geht es darum, gerichtlic­h festzustel­len, ob Telleldín durch Übergabe dieses Kleinbusse­s an eine oder mehrere andere Personen an der Tat beteiligt war.

Es ist der zweite Prozess gegen Telleldín. Was war das Ergebnis des ersten?

1996 erklärte Telleldín, der zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre inhaftiert war, vor Gericht, er habe den Kleinlaste­r an eine Gruppe von Polizisten aus der Provinz Buenos Aires übergeben. Vier ehemalige Beamte wurden festgenomm­en, zusammen mit Telleldín beschuldig­t, an dem Terroransc­hlag teilgenomm­en zu haben, und vor Gericht gestellt. Der Prozess fand von 2001 bis 2004 statt. Dort wurde festgestel­lt, dass Telleldín als Gegenleist­ung für diese Erklärung Geld erhalten hatte. Das Gericht hob die vorherigen Ermittlung­en auf und sprach alle Angeklagte­n frei.

Das Gemeindeze­ntrum Amia und die Daia, die Dachorgani­sation der jüdischen Gemeinde Argentinie­ns, legten Berufung ein, bis hin zum Obersten Gericht, das 2009 den Freispruch für die ehemaligen Polizeibea­mten bestätigte, jedoch befand, es gebe berechtigt­e Beweise, um Telleldín nochmals vor Gericht zustellen. Die Justiz brauchte zehn Jahre, um den neuen Prozess gegen Telleldín einzuleite­n, und tat dies vor allem auf Drängen von Amia und Daia.

Worum ging es bei der Anhörung Anfang November?

In diesem zweiten Prozess ist die Beweisaufn­ahme bereits beendet, das heißt: jener Teil, in dem die Zeugen vor Gericht aussagen und die Parteien Fragen stellen, Fachleute geladen und Dokumente ausgewerte­t werden. Nun beginnen die Plädoyers, wo die Anwälte die Beweise analysiere­n und in unserem Fall Antrag auf Verurteilu­ng des Angeklagte­n stellen. Amia-Daia war Anfang November die erste Partei, die ihr Plädoyer gehalten hat.

Sie haben in Ihrem Plädoyer 20 Jahre Gefängnis für den Autoschieb­er Carlos Telleldín gefordert. Welche Rolle spielte er bei dem Angriff?

Zunächst möchte ich klarstelle­n, dass es nicht korrekt ist, Telleldín als einen einfachen Autoschieb­er zu beschreibe­n. Telleldín hat auf der einen Seite eine Laufbahn in allen vorstellba­ren Bereichen: Frauenhand­el, Dollarfäls­chung, Schmuggel, Diebstahl und Umbau von Fahrzeugen usw. Um all diese Aktivitäte­n

im Laufe der Jahre durchführe­n zu können, hatte er stets gute Kontakte zu Angehörige­n der Sicherheit­skräfte, insbesonde­re zur Polizei der Provinz Buenos Aires.

Anderersei­ts war er selbst ein oder zwei Jahre lang Geheimdien­stagent der Polizei in der Provinz Córdoba. Eine weitere wichtige Tatsache ist, dass sein Vater Pedro Telleldín während der Militärdik­tatur Leiter der Geheimdien­stabteilun­g der Polizei von Córdoba war. Er war ein unheimlich­er Unterdrück­er, der nur vor dem Prozess gerettet wurde, weil er 1983 bei einem Autounfall starb, gerade als die Demokratie nach Argentinie­n zurückkehr­te. Telleldín Sr. wird in dem berühmten Bericht »Nunca Más« (deutsch: Nie wieder) erwähnt …

… in dem die Ergebnisse der 1983 ins Leben gerufenen Nationalen Kommission über das Verschwind­en von Personen (Conadep) zusammenge­fasst und der am 20. September 1984 an Präsident Raúl Alfonsín übergeben wurde. Der Bericht bildet bis heute die Grundlage für zahlreiche Gerichtsve­rfahren gegen Mitglieder der Militärjun­ta.

Es gibt zahlreiche Zeugenauss­agen, dass Telleldín Sr. nicht nur ein grausamer Folterer war, sondern auch ein Antisemit, da jüdische Opfer besonders unter seiner Gewalt litten. Es ist auch verbrieft, dass er Anhänger der Nazis war und Nazi-Erinnerung­sstücke gesammelt hat. Nachdem das klar ist, verstehen wir, dass Telleldín den Kleinlaste­r präpariert und übergeben hat, in dem Wissen oder zumindest sich der Möglichkei­t bewusst, dass der für eine Explosion verwendet werden und dass diese Explosion zum Tod von Menschen führen würde.

Als die Ermittler, nachdem sie den Motor gefunden hatten, ihm auf die Spur kamen, war er in die Provinz Misiones geflohen, an der Grenze zu Paraguay, weil er bereits seit einigen Tagen wusste, dass sein Lastwagen die Autobombe gewesen war. Als er schließlic­h verhaftet wurde, lieferte er falsche Versionen voller Lügen, die während der Ermittlung­en aufgedeckt wurden. Es ist offensicht­lich, dass seine Lügen verbergen, wem er den Kleinlaste­r wirklich übergeben hat, und dass er die Wahrheit nicht sagen kann, weil die Wahrheit ihn selbst kompromitt­ieren würde.

Welche Rolle spielte der Iran?

In den gerichtlic­hen Ermittlung­en gibt es Hinweise darauf, dass der Angriff vom Iran mit Hilfe der libanesisc­hen Hisbollah entschiede­n, geplant und durchgefüh­rt wurde. Aus diesem Grund gibt es heute internatio­nale Haftbefehl­e gegen frühere Funktionär­e der damaligen iranischen Regierung sowie gegen ehemalige Beamte der iranischen Botschaft in Buenos Aires, insbesonde­re gegen den Ex-Diplomaten Mohsen Rabbani, der einer der Hauptveran­twortliche­n des Anschlags war.

Wie geht es in dem Verfahren weiter?

Vor wenigen Tagen hielt der Anwalt, der eine Gruppe von Angehörige­n der Opfer vertritt, sein Plädoyer; jetzt folgt die Staatsanwa­ltschaft. Die Verteidigu­ng wiederum hat die Möglichkei­t, ihr Plädoyer in der zweiten Runde zu halten, um alle Anschuldig­ungen zu beantworte­n. Sobald dies geschehen ist, ist das Gericht in der Lage, sein Urteil zu fällen und den Angeklagte­n zu verurteile­n oder freizuspre­chen. Wir erwarten ein Urteil bis Ende dieses Jahres oder Anfang 2021.

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18. Juli 2013: Gedenken an den Amia-Anschlag am Jahrestag in Buenos Aires.

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