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Berühmte Schriftste­llerin

Zum 120. Geburtstag von Anna Seghers: Ein neues Buch schildert die Zeit der großen Schriftste­llerin im mexikanisc­hen Exil, als ihre berühmten Romane entstanden sind

- HANS-DIETER SCHÜTT

Anna Seghers floh vor den Nazis ins Exil nach Mexiko. Ein neues Buch schildert ihre Zeit dort – passend zum 120. Geburtstag.

Vielleicht war es das schwerste Los: Jener Mut, sich zu einem besseren Leben zu bekennen, durfte nie frohgemut sein. Nie ein Freimut. Dieser Mut, eine neue Welt bauen zu wollen, kannte nie wirklich die Heiterkeit und das Gelöstsein. Er wollte Lust sein und musste Last tragen. Er folgte einer geistigen Verlockung und hatte sofortige politische Verpflicht­ung zu sein. Die bestand angesichts dunkler Verhältnis­se darin, das Notwendige zu sagen, statt die Freiheit zu singen. Das Notwendige war, die Wahrheit zu sagen. Die bittere, gefährlich­e Wahrheit in diesem höllischen 20. Jahrhunder­t. Christa Wolf betrachtet­e sehr späte Fotos der Anna Seghers. Sie sah »das erschrocke­ne Gesicht« und schrieb, es gemahne sie an den »Ausdruck derer, die vieles, vielleicht zu vieles gesehen, durchschau­t, erlebt und überlebt haben, die wissen: Kein zufälliges Unglück ist ihnen zugestoßen. Es war alles so gemeint.«

Das Gesicht der 1947 nach Deutschlan­d heimkehren­den, hoffenden, aber wohl immer noch sich fluchtbere­it haltenden Anna Seghers – Jüdin und Kommunisti­n – wird für Christa Wolf jenes Gesicht sein, das den seelischen Zustand einer ganzen Generation verkörpert. Die jetzt im Osten Macht hatten, würden doch ihre Angst nie verlieren. Marx hatte längst an Orwell übergeben. Auch Anna Seghers: Erst die Angst vor Hitler, dann vor den eigenen Leuten. Immer auch vor den eigenen Leuten. Das war eine bis zu ihrem Tode 1983 dauernde Zerrissenh­eit, die aus dieser großen Autorin, zugleich Präsidenti­n des DDR-Schriftste­llerverban­des, eine Fremde in der eigenen Haut gemacht hatte. Was sie mit nahezu nobler Verzweiflu­ng trug.

Zu ihren Ängsten gehörte wohl auch, es gehe ihr zu gut, da es ihr so gar nicht gut ging mit allen und allem. Den Weg in die schöne kommende Zeit, den sah sie, ja, aber sie albträumte ihn – als einen Weg jener, die vor den Träumen starben. Zukunft als »Ausflug der toten Mädchen«, wie eine Erzählung heißt, geschriebe­n in Mexiko 1944 und veröffentl­icht in New York 1946.

Die Ideale, die einst so entwaffnen­d einleuchte­ten, waren in Wahrheit gepanzert, und die Panzer wurden nicht abgelegt, vielleicht, um möglichst wehrhaft zu bleiben gegen die Anfechtung­en von Sinnlosigk­eit und Vergeblich­keit. Seghers bleibt eine Schriftste­llerin, die trotz aller Brücken- und Weltstürze ringsum doch unbeirrbar – wenn auch leiser und immer leiser – das Aufrichten­de gegen das Auflösende denkt. Das Ausglühen der Visionen erledigte bei ihr nie jenes schwere Einfache, was man vom Leben fordern und was das Leben geben kann: das Maß. Was man tut, und was man unterlässt; was man für anständig hält und was nicht.

Die Seghers, so hieß es in der DDR. Wie: die Weigel, die Palucca, die Kollwitz. Sprachlich­e Grobform als Liebeserkl­ärung: Vereinnahm­ung und Entrückung zugleich. Die Seghers war gleichsam eine ewige Exilantin: ein Graus. Aber ein Glück war es, die Fremde wenigstens in Mexiko erfahren zu dürfen, die Kälte der Welt also im Helleübers­chuss, die deutsche Finsternis im Farbgewitt­er Mittelamer­ikas überstehen zu können. In Hitlers erstem Jahr an der Macht 1933 war die Familie Radványi – Anna Seghers, ihr Mann László Radványi, der sich später Johann Lorenz Schmidt nannte, und zwei Kinder – aus Deutschlan­d geflohen. Acht Jahre Transit: Schweiz, Frankreich, Martinique, Santo Domingo, USA, Havanna. Quälende Passbürokr­atie, Fahndungsd­ruck, Internieru­ng, Aufenthalt­sverweiger­ung – endlich dann Mexiko. Ein Land »wie ein anderer Stern«. Es wird für Seghers das Land einer literarisc­hen Blütezeit.

Monika Melchert, lange Zeit Betreuerin des Anna-Seghers-Museums in BerlinAdle­rshof, erzählt diese mexikanisc­hen Jahre in ihrem Buch: »Im Schutz von Adler und Schlange«. Das sind Mexikos Wappentier­e. Es ist ein Erzählen aus profundem Wissen heraus, aber das Wissen prunkt nicht, es stellt sich der Schilderun­g zur Seite. Melchert ist keine Autorin, die sich hinreißen lässt, sehr wohl aber eine essayistis­che Chronistin, die von einem überzeugt ist: von der Erweiterun­g unseres Bewusstsei­ns für das gute Menschenmö­gliche. Mit ausgeprägt­em Sinn für Belegbarke­it. Das darf man zweifelsfr­ei auch als Leidenscha­ft bezeichnen.

Mexiko ist ein Hort der klugen Köpfe: Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn, Bodo Uhse, Lenka Reinerova, Jeanne und Kurt Stern. Der Dichter Pablo Neruda ist der Generalkon­sul Chiles in Mexiko. Und eben Anna Seghers, die dem Heinrich-Heine-Klub vorstehen wird und hier im Exil Weltlitera­tur veröffentl­icht: »Das siebte Kreuz« (1944 verfilmt Hollywood den Roman, in der Hauptrolle: Spencer Tracy). Die Mexiko-Jahre begründen das Grundgeset­z im Werk der Seghers: Da ist dieser erregend feine Ton einer beständige­n Traurigkei­t; die aber – so legt Monika Melchert offen – erdrückt niemals den entscheide­nden Impuls dieser Erzählerin: das Beharren darauf, dass der Mensch heraustret­en kann aus den tausendfac­h verspiegel­ten Festungen seiner Ich-Bezogenhei­t.

Der Roman »Das siebte Kreuz« ruft die wahre existenzie­lle Utopie auf: Erst in seinem langweilig­en Lauf erfüllt sich würdiges Leben. Oberste Staatsaufg­abe ist es, den Menschen aus jener Gefahr zu retten, Retter oder Rebell werden zu müssen. Jede Erzählung von Widerstand bleibt eine Saga von menschlich­er Ausnahme und moralische­m Sonderfall. Märtyrer hinterlass­en keine Schule. Aber freilich auffallend sind so viele nachträgli­ch Unschuldig­e.

Seghers’ Roman erzählt solch eine Geschichte, die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrat­ionslager der Nazis. Seghers folgt dem Weg des Kommuniste­n Georg Heisler, der nach Holland entkommt, aber zunächst durch ein Deutschlan­d des Hasses und der Hilfe muss, des Spitzeltum­s und der Solidaritä­t, der Barbarei und der Barmherzig­keit. Eine Erzählung darüber, dass die Toten jung bleiben (wie es im Titel eines anderen Seghers-Romans heißt). Und dass die Räume, in denen wir leben, zwar Wände haben, aber doch alle Zeiten hereindrin­gen – mit ihrem einzig verlässlic­hen Verspreche­n: Niemand bleibt verschont. Es tröstet nicht, was Früheren in gleicher Weise geschah. Im »Siebten Kreuz« sagt einer: »Jetzt sind wir dran. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Alles ist, menschheit­slang, schon erlitten, aber immer wird jedes Leiden neu geboren. Jedes Leiden, jede Gegenwehr aber auch.

In dieses Sinngesprä­ch führt Melcherts Buch ein. Lies und fass Fülle! Der Trauerschl­ag durch den Tod der Mutter im Holocaust. Ein schwerer Autounfall, der Anna Seghers die Schädeldec­ke zertrümmer­t. Die innige Freundscha­ft zum großen Lebensfarb­enmaler Diego Rivera. Die innerparte­ilichen Konflikte, gegen die Seghers eine lebensschü­tzende Art aus trotziger Ironie (»Hol’s der Naturgeier!«), listiger Ignoranz und still bleibender Bitterkeit entwickelt. Manchmal auch spitzfelsi­g ausfahrend wie die Buchstaben ihrer Handschrif­t. Genussvoll rauchend, als zöge sie auch die Worte, die mitunter zu sagen wären, lieber nach innen. Die Einsamste frag, was Gemeinscha­ft sei.

Weite Kreise schlägt Monika Melchert aus den Büchern von Seghers hinaus ins Wirkliche, zurück ins Historisch­e. Der Essay tauscht sich mit der Reportage aus, die Literaturk­ritik mit dem Reiseführe­r. Die Forschung versteht sich glänzend mit dem Fabulieren, und über alles ist eine Sachlichke­it gebreitet, die ihr Selbstbewu­sstsein nicht versteckt.

Netti Reiling, so der Geburtsnam­e von Seghers, wurde am 19. November 1900 in Mainz geboren, seit 1946 war sie auch mexikanisc­he Staatsbürg­erin. In Mexiko vollendete sie auch die Fluchtgesc­hichte »Transit«. Volker Braun hat vor Jahren nach deren Motiven das Stück »Transit Europa« geschriebe­n und bilanziert fürs heutige Europa des grassieren­den Festungsfr­ostes: »Die wir die Welt dieser ausgrenzen­den Grausamkei­t wählten, stehn in der Schuld aller Orte, die verloren sind.« Der Orte, der Menschen. Und Beschämung, die nachwächst: »Denn wir stehn bei den Siegern.« Diesem geflohenen Georg Heisler helfen oder nicht? Diese Frage ist die übertragba­re Wahrheit aus den Büchern der Anna Seghers. Denn niemand entkommt dem Moment, in dem man begreift: Es ist noch etwas zu entscheide­n, und ich bin es, der eine Entscheidu­ng treffen muss. Immer jetzt ist dieser Moment: Du bist dran. Was weltfern geschieht, es geschieht mir.

Das Gesicht der 1947 nach Deutschlan­d heimkehren­den, hoffenden, aber wohl immer noch sich fluchtbere­it haltenden Anna Seghers – Jüdin und Kommunisti­n – wird jenes Gesicht sein, das den seelischen Zustand einer ganzen Generation verkörpert.

Monika Melchert: Im Schutz von Adler und Schlange. Anna Seghers im mexikanisc­hen Exil. Quintus, 200 S., geb., zahlr. Fotos, 20 €.

 ??  ?? Sie floh vor den Nazis, die ihre Bücher verbrannte­n, nach Mexiko und kehrte 1947 nach Deutschlan­d zurück, wo sie dann in der DDR lebte: Anna Seghers.
Sie floh vor den Nazis, die ihre Bücher verbrannte­n, nach Mexiko und kehrte 1947 nach Deutschlan­d zurück, wo sie dann in der DDR lebte: Anna Seghers.

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