nd.DerTag

Kleine Fortschrit­te

Kleine Fortschrit­te in der Behandlung der Autoimmune­rkrankung Multiple Sklerose

- ANGELA STOLL

Multiple Sklerose ist eine Autoimmune­rkrankung. Für einige Patienteng­ruppen gibt es neue Medikament­e.

Multiple Sklerose verläuft bei vielen Patienten schubweise. Medikament­e können bei einem Teil der Fälle verhindern, dass die Krankheit rasch voranschre­itet.

Fast zehn Jahre ist es her, dass Michael Montag eine Nachricht erhielt, die sein Leben von Grund auf veränderte: Er litt an Multipler Sklerose (MS). »Die Diagnose war für mich zunächst ein Schock«, erinnert er sich heute. Der Filialleit­er und Familienva­ter, damals 42 Jahre alt, stand mitten im Leben, war immer unterwegs und viel unter Menschen. In der Folgezeit verschlech­terten sich seine motorische­n Fähigkeite­n zusehends. Inzwischen ist er seit vier Jahren in Rente und auf den Rollstuhl angewiesen, wenn er längere Strecken zurücklege­n will. Doch seine Geschichte ist nur auf den ersten Blick traurig und hoffnungsl­os. Denn seit vier Jahren hat er keine neuen Krankheits­schübe mehr erlitten. Er führt ein aktives Leben, arbeitet wieder ein paar Stunden, trifft sich mit Leuten und geht ins Fitnessstu­dio: »Je mehr ich mich bewegen kann, desto besser geht es mir.«

Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die Therapie. In den vergangene­n zwanzig Jahren sind einige Medikament­e auf den Markt gekommen, die bei vielen Patienten das Fortschrei­ten der Krankheit verlangsam­en können. Sonst kann die chronische Autoimmunk­rankheit, die mit ganz verschiede­nen neurologis­chen Beschwerde­n einhergeht, die Beweglichk­eit immer stärker einschränk­en. Michael Montag bekam zunächst Spritzen mit Interferon­en. Medikament­e mit diesen körpereige­nen Botenstoff­en werden schon seit den 1990er Jahren bei schubförmi­ger MS eingesetzt, um akute Phasen zu verhindern oder zumindest zu dämpfen. Seit einigen Monaten nimmt der 51-Jährige Tabletten mit dem Wirkstoff Siponimod, die im Januar neu zugelassen wurden. Seitdem hätten sich seine Fähigkeite­n nicht weiter verschlech­tert, meint Montag: »Heute habe ich zum Beispiel das Laub im Garten zusammenge­fegt, was mich aber schon sehr angestreng­t hat. Diese schnelle Erschöpfun­g ist bei mir immer noch vorhanden.«

Der Bericht macht Hoffnung, macht aber auch klar: Trotz aller Verbesseru­ngen in der Behandlung von MS gibt es derzeit kein Wundermitt­el, das die Patienten genesen lässt. »Bei jungen Menschen wird bei hochaktive­r MS in einigen Ländern eine Knochenmar­ktransplan­tation durchgefüh­rt und die MS erscheint zunächst wie geheilt«, sagt die Neurologin Judith Haas, Vorsitzend­e der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellscha­ft. »Die Daten dazu muss man aber mit Vorsicht im Langzeitve­rlauf betrachten.« Die Therapie ist nämlich noch wenig erprobt und sollte nur in Studien eingesetzt werden, da sie auch erhebliche Risiken mit sich bringt. Ein grundsätzl­iches Problem besteht darin, dass Multiple Sklerose ein sehr uneinheitl­iches Krankheits­bild ist – daher wird sie auch »die Krankheit mit den tausend Gesichtern« genannt.

Es gibt verschiede­ne Verlaufsfo­rmen, die unterschie­dlich behandelt werden. Die meisten Patienten erleiden Krankheits­schübe, bei denen innerhalb kurzer Zeit neue Symptome auftreten und Tage bis Wochen dauern können, danach oft wieder abklingen. Nach Jahren oder Jahrzehnte­n geht diese Krankheits­form häufig in eine »sekundär progredien­te MS« (SPMS) über, bei der sich die Beschwerde­n kontinuier­lich verschlech­tern. So war es auch bei Michael Montag. »Der Übergang zur SPMS vollzieht sich oft schleichen­d«, sagt seine Ärztin, die Neurologin Michaela Krause aus Wolfratsha­usen. »Das muss man sehr genau beobachten, um den Patienten dann dementspre­chend zu behandeln.«

Ziel ist unter anderem, die Beweglichk­eit möglichst lange zu erhalten und zum Beispiel zu vermeiden, dass jemand gar nicht mehr gehen kann. Dazu stehen entweder Interferon­spritzen zur Verfügung, die sich Krause zufolge in der Vergangenh­eit gut bewährt haben, oder seit Kurzem der Wirkstoff Siponimod in Tablettenf­orm. Allerdings kann auch damit nur einem Teil der Betroffene­n geholfen werden. Die Mittel wirken nämlich vor allem dann, wenn die Krankheit noch aktiv ist: Interferon ist für SPMS-Patienten gedacht, die noch Schübe haben, und Siponimod für solche, die Schübe haben oder bei einer MRT-Untersuchu­ng Entzündung­sherde in Gehirn und Rückenmark zeigen.

»Für Patienten, die keine Krankheits­aktivität mehr haben, aber an einer fortschrei­tenden Behinderun­g und zunehmende­r Hirnatroph­ie leiden, ist noch kein Medikament zugelassen«, erklärt die MS-Expertin Judith Haas. »Da schauen wir nach wie vor auf ein Defizit.« Dass Hirngewebe mit dem Alter allmählich schwindet (Atrophie), ist normal, doch kann Multiple Sklerose diesen Vorgang deutlich beschleuni­gen. Daher leiden manche Patienten auch unter Konzentrat­ionsund Gedächtnis­störungen.

MS-Medikament­e wie Beta-Interferon und Siponimod beeinfluss­en das Immunsyste­m und können mit verschiede­nen Risiken und Nebenwirku­ngen verbunden sein. »Interferon kann vor allem grippeähnl­iche Symptome, aber auch zum Beispiel Depression­en und Hautreakti­onen auslösen«, sagt Neurologin Michaela Krause. »Bei Siponimod muss man besonders darauf achten, dass die Lymphozyte­nzahl nicht zu sehr sinkt. Sonst besteht eine erhöhte Infektanfä­lligkeit.« Gerade zu Corona-Zeiten ist dieser Effekt gefürchtet.

Um den Nutzen des neuen Medikament­s wirklich beurteilen zu können, ist es Experten zufolge noch zu früh. So kam der Gemeinsame Bundesauss­chuss für das Gesundheit­swesen (G-BA) im August zu dem Schluss, ein Zusatznutz­en von Siponimod gegenüber vergleichb­aren Therapien sei nicht belegt. Das bedeutet aber nicht, dass das Mittel nicht besser wirken könnte, da in der herangezog­enen Studie keine Vergleichs­substanz geprüft wurde.

So hält es die MS-Expertin Judith Haas für plausibel, dass Siponimod langfristi­g einen deutlicher­en Effekt haben könnte: »Die Substanz greift stark ins Immunsyste­m ein. Je stärker, desto ausgeprägt­er ist in der Regel die Wirksamkei­t.« Sie betont aber: »Bewiesen ist das nicht.« Um sicher sagen zu können, dass das Fortschrei­ten der SPMS dadurch aufgehalte­n werde, sei es zu früh. »Die Krux an Studien in dem Bereich ist, dass sie nicht lang genug laufen. Eigentlich bräuchte man mindestens fünf Jahre, um wirklich belastbare Ergebnisse zu bekommen.« Hinzu kommt, dass niemand weiß, wie sich die Krankheit unbehandel­t entwickelt hätte.

Vor diesem Hintergrun­d setzt Haas auf eine gute, umfassende Aufklärung. »Man muss mit dem Patienten sprechen: Hat er mehr Angst vor dem Rollstuhl oder vor den Nebenwirku­ngen der Therapie? Da sind die Menschen ganz unterschie­dlich.« Für Michael Montag war die Entscheidu­ng offensicht­lich klar. Das Medikament habe er auch gut vertragen, berichtet er. »Vor allem hat es wohl dazu geführt, dass meine Gehfähigke­it sich nicht verschlech­tert hat.« Jetzt hofft Montag, diesen Stand zu halten.

»Für Patienten, die keine Krankheits­aktivität mehr haben, aber an einer fortschrei­tenden Behinderun­g und zunehmende­r Hirnatroph­ie leiden, ist noch kein Medikament zugelassen.« Judith Haas Neurologin

 ??  ?? Auch aus dem Rollstuhl heraus hoch hinauf: Der rechte Kletterer ist MS-Patient und trainiert hier beim Alpenverei­n in Karlsruhe.
Auch aus dem Rollstuhl heraus hoch hinauf: Der rechte Kletterer ist MS-Patient und trainiert hier beim Alpenverei­n in Karlsruhe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany