nd.DerTag

Philosophi­e des Vertrauens

Schwedens Umgang mit Corona setzt weiter auf Aufklärung und Kommunikat­ion mit der Bevölkerun­g

- PHILIP FRANZÉN, MALMÖ

In Skandinavi­en geht die Politik im Umgang mit der Pandemie unterschie­dliche Wege. Schweden verschärft die CoronaMaßn­ahmen, bleibt aber bei Sonderweg.

Nachdem Schweden über Monate von einer zweiten Coronawell­e verschont blieb, ist nun auch hier ein deutlicher Anstieg der Infektione­n sowie eine erhöhte Belastung des Gesundheit­ssystems zu verzeichne­n. Seit Beginn der Pandemie hat Schweden 6321 mit Covid-19 Verstorben­e zu verzeichne­n. Fast 200 000 der etwas mehr als 10 Millionen Einwohner wurden bisher positiv auf das Virus getestet, an diesem Mittwoch kamen 4007 neue Fälle hinzu. Am Tag zuvor mussten weitere 13 Patienten intensiv behandelt werden.

Die Regierung sah sich jetzt gezwungen, ihre Maßnahmen zu verschärfe­n. Am Montag gab der sozialdemo­kratische Ministerpr­äsident Stefan Löfven die neue Höchstgren­ze für bestimmte Zusammenkü­nfte im öffentlich­en Raum bekannt. Auf der digitalen Pressekonf­erenz betonte Löfven mit großem Ernst: »Dies ist eine sehr einschränk­ende Maßnahme und in der modernen Zeit beispiello­s.« Die neue Regelung soll am 24. November in Kraft treten und zunächst vier Wochen lang gelten. Sie betrifft Veranstalt­ungen wie Konzerte, religiöse Versammlun­gen und Demonstrat­ionen. Ein Lockdown steht nicht an.

Private Treffen mit mehr als acht Personen sind formal weiterhin weder zu Hause noch im Freien verboten. Die Regierung betont jedoch, dass mit den neuen Maßnahmen auch eine allgemeine Verhaltens­änderung bei den Bürgern erreicht werden soll. »Dies ist die neue Norm für die ganze Gesellscha­ft, für ganz Schweden«, erklärte der Premier. Sein Appell an seine Landsleute: »Geht nicht ins Fitnessstu­dio. Geht nicht in die Bibliothek. Ladet niemanden ein. Feiert keine Partys. Stellt das ein! Sagt das ab!« Der Ton und die verfügten Einschränk­ungen gelten im historisch­em Kontext Schwedens als außergewöh­nlich und dramatisch.

Die Ankündigun­g der Regierung ist der neueste Schritt im Umgang mit der Covid-19Pandemie im Rahmen einer Strategie, die weltweit diskutiert und vielerorts kritisiert wurde, weil sie darauf verzichtet­e, das wirtschaft­liche und öffentlich­e Leben zeitweilig komplett herunterzu­fahren. Die größten Restriktio­nen betrafen dabei öffentlich­e Versammlun­gen und die Gastronomi­e. Bereits im Frühjahr war die Zahl der Personen, die an solchen Veranstalt­ungen teilnehmen dürfen, begrenzt worden, für Restaurant­s und Cafés wurden strenge Abstandsre­geln eingeführt. In der vergangene­n Woche kündigte die Regierung an, die Vorschrift­en für gastronomi­sche Einrichtun­gen zu erweitern. Ab diesem Freitag ist der Verkauf von Alkohol nach 22 Uhr verboten.

Die Tendenz zu einer zweiten Welle an Coronainfe­ktionen zeigte sich in diesem Herbst auch in Schwedens nordischen Nachbarlän­dern. Dort ließ sich der unerwünsch­te Anstieg kurz nach seinem Beginn wieder stoppen – ohne landesweit­e Lockdowns zu verhängen. Dänemark, das Stand Anfang November mit mehr als zehn pro 1000 Einwohner im skandinavi­schen Vergleich die meisten Coronatest­s durchführt­e, hat es geschafft, die Welle rechtzeiti­g zu bremsen. Und auch in Norwegen und Finnland gibt es im Vergleich zu Schweden und anderen europäisch­en Ländern derzeit nur wenig Neuinfekti­onen.

Der Gesundheit­sbehörde Folkhälsom­yndigheten geht es in diesem Herbst vor allem darum, die Menschen weiter zum Homeoffice anzuhalten und dazu, öffentlich­e Verkehrsmi­ttel und Innenräume möglichst zu meiden, den physischen Kontakt zu anderen zu reduzieren. Trotz eines deutlichen Rückgangs der Mobilität ist es damit noch nicht gelungen, den negativen Trend zu stoppen.

Obwohl es von Anfang an das erklärte Ziel der schwedisch­en Strategie war, vor allem langfristi­g nachhaltig­e Maßnahmen zu ergreifen, wächst die Befürchtun­g, dass sich eine gewisse Corona-Müdigkeit in der Bevölkerun­g ausbreitet. Konsequent hatte die Gesundheit­sbehörde bisher auf Gebote statt Verbote gesetzt mit der Begründung, dass dies in der öffentlich­en Gesundheit­sfürsorge in Schweden eine lange Tradition habe. Eine Tradition, die auf diesem Feld bislang äußerst erfolgreic­h war und mit der sowohl die Bevölkerun­g als auch die Behörden Erfahrung haben. Staatsepid­emiologe Anders Tegnell verweist unter anderem auf Impfprogra­mme: In Schweden besteht keine Pflicht, sich selbst oder seine Kinder gegen bestimmte Krankheite­n impfen zu lassen. Dennoch liegt das Land beim Anteil der Menschen, die geimpft sind, mit an der Spitze. Die Gesundheit­sbehörde folgt der Philosophi­e, dass Vorgaben mit guten und vertrauens­würdigen Informatio­nen besser erreicht werden, als per Vorschrift.

Der Linie der Behörde folgt die Regierung nicht immer. So wurde im Schatten der Coronakris­e in Schweden die Drogenpoli­tik diskutiert. Nach Angaben der EU-Agentur Europäisch­e Beobachtun­gsstelle für Drogen und Drogensuch­t hat das Land mit die höchste Sterberate im Zusammenha­ng mit Drogen in Europa. Die Gesundheit­sbehörde wollte in diesem Jahr eine mögliche Entkrimina­lisierung des persönlich­en Gebrauchs sowie die Einführung sogenannte­r Injektions­räume für Süchtige prüfen. Die Regierung sieht darin jedoch ein falsches Signal. Der von der Gesundheit­sbehörde vorgelegte Bericht zum Drogenprob­lem verdeutlic­ht dennoch den grundsätzl­ichen Ansatz, dem sie auch in der Pandemie folgt: Verbot und Zwang richten mehr Schaden als Nutzen an. Sollte Schweden in diesem Winter seine Corona-Strategie ändern, dann nur, weil die Regierung unter Druck stehend die Initiative ergreift.

Die Corona-Pandemie beherrscht Politik und Alltag in Europa und legt die Bruchlinie­n in der EU offen. Die ungleichen Strategien in Ländern wie Schweden und Italien haben nicht nur Auswirkung­en auf das Infektions­geschehen, sondern auch die psychosozi­ale Verfassung der Gesellscha­ft. Einen Königsweg gibt es dabei nicht.

 ??  ?? Wird es bald einsam um Anders Tegnell? Der Staatsepid­emiologe gilt als Architekt der schwedisch­en Strategie, die die ganze Gesellscha­ft im Blick zu haben versucht.
Wird es bald einsam um Anders Tegnell? Der Staatsepid­emiologe gilt als Architekt der schwedisch­en Strategie, die die ganze Gesellscha­ft im Blick zu haben versucht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany