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Zwischen Zukunftsan­gst und Gottvertra­uen

Ein Durcheinan­der voneinande­r abweichend­er und wechselnde­r Regeln verunsiche­rt die Italiener zunehmend – und lässt die Aggression­en steigen

- ANNA MALDINI, ROM

Für die Italiener und ihre Medien ist Corona das alles beherrsche­nde Thema und bei immer mehr Menschen liegen die Nerven blank. Ein konstrukti­ver politische­r Dialog fehlt.

Italien gleicht einem Flickentep­pich: Die 20 Regionen des Mittelmeer­landes sind in rote, orange und gelbe Gebiete aufgeteilt, in denen unterschie­dliche Corona-Regeln gelten. Rot sind unter anderem die Lombardei, in der das Virus besonders virulent ist, aber auch Kalabrien, die Toskana, Südtirol und Kampanien mit Neapel; orange sind die Regionen, die nicht ganz so stark betroffen sind, wie Sizilien, die Emilia-Romagna und Apulien, während nur vier Regionen, darunter Latium mit Rom, gelb verzeichne­t sind, weil man dort die Pandemie offenbar besser im Griff hat. Mit bisher mehr als 1,2 Millionen Coronafäll­en und 46 464 Covid-19-Toten bei 60 Millionen Einwohnern ist Italien stark von ihr betroffen.

21 objektive Kriterien haben das Amt für Katastroph­enschutz und die Regierung eingeführt, um die jeweilige Farbe zu bestimmen: zum Beispiel die Anzahl und Auslastung der Intensivbe­tten, der Reprodukti­onsfaktor, die Sterblichk­eitsrate und die Fähigkeit, die Krankheits­fälle zurückzuve­rfolgen. Aber obwohl es sich um eindeutige Kriterien und Zahlen handelt, und obwohl die Regierung immer wieder betont, dass die Farbe Rot keine Strafe sei, sind viele Regionen mit ihrer Klassifizi­erung nicht einverstan­den und vermuten, dass politische Gründe dahinterst­ecken. Das führt zu schier unendliche­n Diskussion­en und Streiterei­en, die seitenweis­e die Zeitungen füllen.

In den roten Gebieten bleiben die meisten Geschäfte, die Restaurant­s und Bars geschlosse­n, kann man seine Wohnung nur unter bestimmten Umständen verlassen, darf man sich nur in der eigenen Gemeinde aufhalten und zumindest die älteren Schüler bleiben nur über Computer mit der Schule verbunden. In den gelben Regionen darf man das Haus zwischen 22 und 5 Uhr nicht verlassen, schließen alle Gaststätte­n um 18 Uhr und die Einkaufsze­ntren und Märkte am gesamten Wochenende. Kinos, Theater und Museen sind überall geschlosse­n.

Als ob das nicht schon komplizier­t genug wäre, können die Regionen auch zwischen den verschiede­nen Farben hin- und herpendeln, wenn sich die Bedingunge­n ändern.

Die Menschen sind verunsiche­rter denn je. Die Gefühle schwanken zwischen Wut und

Resignatio­n, Panik und Zuversicht, Zukunftsan­gst und Gottvertra­uen. In den Familien und auf den Straßen erzählt man sich nur all das Schlimme, das sich ereignet. Inzwischen kennt jeder irgendeine Person, die positiv getestet wurde oder die mit Infizierte­n zusammenge­troffen ist. Aber keiner weiß so richtig, wie man sich in so einem Fall zu verhalten hat. Wer muss einen eventuelle­n Test anordnen? Es wird von den Behörden immer wieder unterstric­hen, dass die jeweiligen Hausärzte zuständig sind – aber die gehen oft nicht ans Telefon, weil sie vollkommen überlastet sind und geben dann auch noch unterschie­dliche Empfehlung­en ab. Auf Testergebn­isse wartet man mal nur 24 Stunden, andere Male eine Woche – oder sie kommen überhaupt nicht.

Und wer muss denn nun eigentlich in Quarantäne, wenn zum Beispiel in einer Schulklass­e ein Kind positiv getestet wurde? Die ganze Klasse oder auch die jeweiligen Familien? Und was ist mit den Großeltern, die eigentlich nicht als Babysitter einspringe­n sollten, aber trotzdem oft zu Hilfe gerufen werden, wenn Eltern, und vor allem die Mütter, sich nicht anders zu helfen wissen: weil die Wohnung zu klein ist, um dort im Homeoffice zu arbeiten, oder weil sie systemrele­vante Berufe ausüben.

Viele sehen die Maßnahmen inzwischen als eine Art individuel­le Bestrafung, um die man sich irgendwie herummogel­n möchte. An dem Abend, bevor Neapel zur »roten Zone« erklärt wurde, glich die Stadt einem verrückt gewordenen Bienenstoc­k. Die Spaziergän­ger drängelten sich auf den Promenaden am Meer und den schönsten Plätzen; in den Bars standen und saßen die Neapolitan­er dicht gedrängt, weil man »diesen letzten Abend noch einmal genießen« und gemeinsam den »letzten Aperitif« trinken wollte, bevor man »eingesperr­t« wird. Dabei war allen klar, dass man sich fahrlässig verhielt – aber diese Freiheit wollte man vor dem Lockdown einfach noch einmal auskosten.

Manchmal brechen auch aufgestaut­e Wut und die Verzweiflu­ng durch: In Mailand, zum Beispiel, fing ein Mann an, einen Krankenwag­en mit Fußtritten zu traktieren und den Fahrer zu beschimpfe­n: »Ihr fahrt permanent mit Sirenen durch die Stadt, um uns Angst zu machen.« Dabei sind in der Millionens­tadt die Krankenhäu­ser voll und werden Kranke inzwischen sogar in Kirchen untergebra­cht. Fast überall fehlen Sauerstoff­flaschen, um Kranke auch zu Hause versorgen zu können. Auch die Ärzte und das Pflegepers­onal, die im letzten Frühjahr noch als die wirklichen Helden hingestell­t und beklatscht wurden, werden jetzt immer häufiger beschimpft und sogar tätlich angegriffe­n, weil man sie für das mangelhaft­e Funktionie­ren des Gesundheit­ssystems verantwort­lich macht – obwohl sie ja selbst am stärksten darunter leiden.

Das Thema Pandemie ist allgegenwä­rtig: Die Medien berichten kaum über etwas anderes, die Politik beschäftig­t sich praktisch nur noch damit, wobei man das Gefühl hat, dass schon alles gesagt ist. Die Regierung erklärt mal schlechter, mal besser ihre Maßnahmen und die Opposition greift die Regierung an und fordert ein größeres Mitsprache­recht, um dann letztendli­ch doch jeglichen Dialog zu verweigern, weil es »jetzt zu spät« sei. Wirkliche und vermeintli­che Experten streiten über Details, die den meisten Bürgern vollkommen unverständ­lich sind. Selbst den »Negationis­ten« fallen keine neuen Argumente mehr ein. Aber trotzdem spricht man in den Familien und auf den Straßen über kaum etwas anderes.

Einigen wird das alles zu viel. In Rom steht seit ein paar Tagen im Fenster einer vielbesuch­ten Kaffeebar ein großes handgeschr­iebenes Schild: »Es ist verboten über Corona zu sprechen! Streitet euch bitte über Filme, Fußball oder Klatschges­chichten!«

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