nd.DerTag

Neuköllner müssen sich selbst helfen

Trotz Personalau­fstockung scheinen die Behörden im Bezirk mit der Coronalage überforder­t

- CLAUDIA KRIEG

Die Infektions­zahlen im Bezirk Neukölln sind die zweithöchs­ten in der Hauptstadt. Viele Menschen leben hier auf engem Raum, vielen fehlt es an der Möglichkei­t des Rückzugs und der Informatio­n.

Verzweifel­t sei sie nicht, aber genervt, erklärt Lilith Meyer am Telefon: »Ich sitze zu Hause, das Gesundheit­samt hilft mir nicht.« Die Medienpäda­gogin traf die Nachricht, dass sie sich in der Nähe einer positiv auf das Coronaviru­s getesteten Person befunden habe, überrasche­nd. Sie sei seit acht Monaten vorsichtig, sagt die Neuköllner­in, die in einer kleinen Wohngemein­schaft lebt, habe komplett vom Homeoffice aus gearbeitet, sehr wenige Menschen in Innenräume­n getroffen, auf Abstand und Hygiene geachtet. Nun ist es doch passiert, ausgerechn­et in den zwei Wochen, die sie sich in diesem Coronajahr Urlaub genommen hatte. Auf mehr als das allgemein kursierend­e Wissen zu Virus und Ansteckung war sie bislang nicht angewiesen, aber nun hoffte sie, über das Gesundheit­samt an »substanzie­lle Informatio­nen« zu kommen. »Ich habe mich sofort in Selbstquar­antäne begeben und dann versucht, das Amt zu erreichen«, berichtet die 45-Jährige. Symptome hat sie keine.

In der Warteschle­ife der Bezirkshot­line sind 50 Personen vor ihr, sie habe dann darauf verzichtet »alle drei Minuten« anzurufen, weil genau das ja das System überlaste. Sie informiert sich weiter im Internet, fragt bei anderen Betroffene­n nach – allen ist unklar, ob sie als Kontaktper­sonen ersten oder zweiten Grades gelten, ob man sich in der angespannt­en Situation testen lassen solle? »Ich hatte ein schlechtes Gewissen, einen Test zu machen, um mich aus der Quarantäne zu befreien«, sagt Meyer, andere bräuchten die Kapazitäte­n sicher mehr. Erreicht hat sie dann erst nach fast einer Woche jemanden. »Eine Hotline, die nur zu den gleichen Zeiten besetzt ist wie das Amt, das ist ein schlechter Witz«, sagt Meyer. Aber anstatt »konstrukti­ve Vorschläge« zu machen, habe ihr die Mitarbeite­rin am anderen Ende nur geraten: »Lesen Sie sich alles im Internet durch.« Für die Medienpäda­gogin keine große Hilfe. Dann habe sich die Dame darüber aufgeregt, wie eine solche Infektions­situation überhaupt entstehen könne. »Seit einer Woche hatte sich meine Wohngemein­schaft und mein Umfeld mit nichts anderem beschäftig­t, und das bekomme ich vom Staat zu hören?« empört sich Lilith Meyer. Für sie stellt sich die Situation so dar: »Ich verzichte auf Lohnfortza­hlung, lasse das überlastet­e System in Ruhe, zahle den Preis, weil ich vorher Glück hatte und warte ab.« Aber das sei ja nur möglich, weil sie auf Rücklagen zugreifen könne und ihr Arbeitgebe­r ihr nicht sofort kündige, wenn sie keine Quarantäne-Bescheinig­ung vorlegt.

Bezirk räumt Überlastun­g der Hotline ein

Laut Bezirksamt­ssprecher Christian Berg arbeiten im Pandemiest­ab derzeit 223 Personen, beinahe täglich kämen neue hinzu. Räumlichke­iten und Ausstattun­g für die Vielzahl der Mitarbeite­nden werde parallel »hochgezoge­n«. In der Telefonhot­line sind 15 Mitarbeite­nde immer im Einsatz. »Wir analysiere­n durchgängi­g die telefonisc­he Nachfrage der Hotline. Es gibt in der Tat an manchen Tagen eine zeitweise Überlastun­g, während der dann nicht alle Anrufe sofort angenommen werden können. Wir arbeiten an einer Lösung«, erklärt Berg auf Nachfrage.

Die Überlastun­g des Gesundheit­samts ist für Antigoni Ntonti vom Bezirksvor­stand der Linke Neukölln nur ein Versäumnis im Corona-Management­s des Bezirks. Für sie müsste in der Behörde mehr Personal fest angestellt werden, statt Bundeswehr­soldaten einzusetze­n. Auch anderweiti­g sei man »sehr enttäuscht« vom zuständige­n Gesundheit­sstadtrat Falko Liecke (CDU), sagt Ntonti zu »nd«. Dieser habe in ihren Augen »politisch versagt«.

»47 Prozent der Menschen im Bezirk sind Migrant*innen, und es fehlt nach wie vor an ausreichen­d Übersetzun­gsangebote­n«, erklärt die Linke-Lokalpolit­ikerin. Liecke suche die Verantwort­ung für hohe Infektions­zahlen im Bezirk immer bei anderen. Erst seien es rumänischs­tämmige Menschen gewesen, dann arabisch-türkische Personen, die sich auf großen Hochzeitsf­eiern träfen, erklärt Ntonti. »Er sollte in dieser Zeit an der Seite der Menschen im Bezirk stehen«, findet sie.

Lehrer fühlen sich allein gelassen

Dazu käme die nach wie vor schlechte Situation in den Neuköllner Schulen und Kitas, es herrschten Überforder­ung und ein Mangel an tragfähige­n Konzepten. Viele Lehrer*innen fühlten sich mit der Situation allein gelassen, kritisiert Ntonti. Während die Linke fordert, Kitas, Schulen und andere Bildungsei­nrichtunge­n mit modernen Lüftungs- und Luftfilter­ungsanlage­n auszustatt­en, empfiehlt die Schulstadt­rätin Katrin Korte (SPD) eine allgemeine Maskenpfli­cht in allen Klassen während des gesamten Unterricht­s.

Die Abfrage des Bedarfs an Luftfilter­geräten, für die der Bezirk 268 000 Euro vom Senat erhalten habe, laufe noch, heißt es vom Bezirksamt. Es erklärt, dass rund die Hälfte der 28 000 Schüler*innen im Bezirk Anspruch auf ein Endgerät für die Teilnahme am digitalen Unterricht habe. Bislang haben erst 1445 eines aus Spenden des Landeselte­rnausschus­ses und von der Senatsbild­ungsverwal­tung erhalten. Zur Zeit befinden sich laut Behörde rund 2500 Schüler*innen in Quarantäne, 23 Schulen wurden in die Stufe Orange des Corona-Stufenplan­s eingestuft. Die restlichen Schulen stehen auf Gelb.

Newspapers in German

Newspapers from Germany