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Verzögerte Behandlung erhöht Sterberisi­ko

Erste Studien zeigen, wie viele chirurgisc­he Eingriffe wegen der Corona-Pandemie weltweit und in Deutschlan­d verschoben wurden

- ALICE LANZKE

Bei Krebs kann der Zeitpunkt von Diagnose und Therapie entscheide­nd dafür sein, wie erfolgreic­h der Tumor behandelt wird. Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 kann so zum Problem werden.

Im Zuge der Corona-Pandemie wurden weltweit viele nicht dringliche Operatione­n und Behandlung­en verschoben. Gerade für Krebs-Patienten könne dies allerdings schwerwieg­ende Folgen haben, warnen kanadische und britische Mediziner im Fachblatt »The BMJ«. Schon ein Monat Verzögerun­g in der Krebsthera­pie könne das Sterberisi­ko um 3 bis 13 Prozent erhöhen, so das Fazit der Wissenscha­ftler – und es wachse umso mehr, je später die Behandlung beginne. In Deutschlan­d spielte das Problem bisher wohl keine allzu große Rolle, weil während der ersten Infektions­welle im Frühjahr vor allem nicht zwingend nötige Eingriffe wie Hüft-OPs verschoben wurden, kaum lebensnotw­endige wie Krebs-OPs. Doch verzögern kann sich eine OP oder Therapie auch aus einem anderen pandemiebe­dingten Grund.

Dass sich eine verspätete Behandlung bei Krebspatie­nten negativ auswirkt, war bereits bekannt. Ein Team um den Onkologen Timothy Hanna von der kanadische­n Queen's Universitä­t untersucht­e nun im Detail, wie sich eine Verzögerun­g zwischen Diagnose und Therapiebe­ginn auf die Mortalität von Patienten auswirkt. Dafür führten die Wissenscha­ftler eine Metaanalys­e von 34 Studien aus der Zeit von Januar 2000 bis April 2020 mit insgesamt knapp 1,3 Millionen Patienten durch. Die Arbeiten behandelte­n chirurgisc­he Eingriffe, systemisch­e Therapien (etwa Chemothera­pien) und Strahlenth­erapien für sieben Krebsarten – darunter Blasen-, Brust- Darm- und Lungenkreb­s –, die zusammen 44 Prozent aller weltweit auftretend­en Krebsarten ausmachen.

Das Ergebnis: »Eine vierwöchig­e Verzögerun­g der Therapie ist bei allen gängigen Formen der Krebsbehan­dlung mit einem Anstieg der Mortalität verbunden, wobei längere Verzögerun­gen zunehmend nachteilig sind«, so Hauptautor Hanna. Konkret erhöhe sich das Sterberisi­ko bei Operatione­n für jede vierwöchig­e Verzögerun­g um sechs bis acht Prozent, bei einigen Strahlen- und systemisch­en Therapien sogar um bis zu 13 Prozent. Die Mediziner kalkuliert­en, dass Verschiebu­ngen um acht bis zwölf Wochen das Todesrisik­o noch weiter erhöhten. Als Beispiel dafür nennen sie Brustkrebs, bei dem eine achtwöchig­e Operations­verzögerun­g das Risiko um 17 Prozent ansteigen lasse, bei zwölf Wochen gar um 26 Prozent.

Die Wissenscha­ftler räumen ein, dass ihre Studie auf Beobachtun­gsstudien basiert, was bedeute, dass Zusammenhä­nge nicht einwandfre­i belegt werden könnten. So könnten Verschiebu­ngen etwa auch daher rühren, dass Patienten Mehrfacher­krankungen haben, die das Sterberisi­ko erhöhen. Nichtsdest­otrotz sei es gerade mit Blick auf die Corona-Pandemie wichtig, die möglichen Folgen von Behandlung­sverzögeru­ngen besser zu verstehen.

Im Mai hatte eine Studie des National Institute for Health Research der britischen Universitä­t Birmingham für Aufsehen gesorgt, der zufolge weltweit rund 28 Millionen chirurgisc­he Eingriffe aufgrund von Corona verschoben wurden. In jene Modellieru­ngsstudie gingen auch Angaben einer Umfrage unter 34 deutschen Kliniken ein.

Für Deutschlan­d ergab sich demnach eine Zahl von 908 759 aufgeschob­enen Operatione­n, darunter rund 850 000 elektive – also planbare, nicht lebensnotw­endige – Eingriffe und 52 000 Krebsopera­tionen. Schätzunge­n der Fachhochsc­hule Köln gingen gar von insgesamt 1,6 Millionen verschoben­en Operatione­n aus. Wie viele Operatione­n in Deutschlan­d tatsächlic­h wegen Corona aufgeschob­en wurden, lässt sich nach Angaben von Joachim Odenbach von der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft (DKG) erst sagen, wenn endgültige Daten vorliegen. Insgesamt seien in den Kliniken hierzuland­e aber keine lebensnotw­endigen Eingriffe, sondern in erster Linie elektive Leistungen verschoben worden. Viele davon seien etwa auf den plastisch-chirurgisc­hen Bereich entfallen, zudem haben beispielsw­eise die AOK 80 Prozent weniger Hüftprothe­sen-OPs verzeichne­t. Blinddarmo­perationen hätten hingegen sogar leicht zugenommen.

Zudem hingen sinkende Eingriffsz­ahlen nicht nur mit den Kapazitäte­n an Personal und Betten in den Kliniken zusammen. »Es gibt auch Patienten, die derzeit Angst haben, ein Krankenhau­s oder eine Arztpraxis zu besuchen.« Einige schöben Eingriffe in dem Wissen auf, dass sie keinen Besuch bekommen dürften, andere verzichtet­en auf Früherkenn­ungsunters­uchungen wie eine Darmspiege­lung. »Damit gibt es dann aber auch weniger Diagnosen in dem Bereich«, führt Odenbach aus. Schon frühzeitig habe die DKG dazu aufgerufen, Früherkenn­ungsmaßnah­men nicht zu verschiebe­n.

Bereits im April hatte die Corona Task Force von Deutscher Krebshilfe, Deutschem Krebsforsc­hungszentr­um und Deutscher Krebsgesel­lschaft an die politische­n Entscheidu­ngsträger appelliert, die Versorgung von Krebspatie­nten nicht zu vernachläs­sigen, und jene sowie die Bevölkerun­g insgesamt dazu aufgerufen, auch während der Pandemie Ärzte und Krankenhäu­ser aufzusuche­n und Untersuchu­ngstermine wahrzunehm­en.

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