Corona macht Arme noch ärmer
Besonders Geringverdiener erleiden Einkommensverluste
Berlin. Bereits während der ersten Coronawelle wurde die Frage laut: Wer zahlt für die Krise? Mit dem Lockdown kam auch das Wirtschaftsleben in weiten Teilen zum Erliegen, Geschäfte wurden geschlossen, fast sechs Millionen Beschäftigte zeitweilig in Kurzarbeit geschickt. Befeuert wurde die Debatte dadurch, dass zum Beispiel BMW mitten in der Krise 1,6 Milliarden Euro Dividenden an seine Aktionäre ausschüttete – Hauptprofiteur war der Quandt/Klatten-Clan, der zu den reichsten Familien des Landes gehört.
Nun, mitten in der zweiten Coronawelle, zeigt der am Donnerstag veröffentlichte Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), dass hauptsächlich Geringverdiener*innen während der Coronakrise Einkommensverluste hinnehmen, also für die Krise zahlen müssen.
Den Daten des Instituts zufolge verlor bis Juni rund ein Drittel der Erwerbstätigen in Deutschland Einkommen. Unter den Befragten mit einem monatlichen Nettoeinkommen unter 900 Euro war es fast die Hälfte. In der Einkommensgruppe über 4500 Euro waren dagegen nur rund 27 Prozent betroffen. Die Coronakrise trägt also zur weiteren Spaltung der Gesellschaft bei.
Denn Arme haben in der Coronakrise nicht nur besonders häufig Einkommensverluste, sie haben meist auch besonders hohe. In Haushalten mit mehr als 2600 Euro netto pro Monat hatten rund 30 Prozent Einbußen von mehr als einem Viertel ihres Einkommens. Dagegen büßten in der Gruppe mit maximal 2000 Euro Haushaltsnetto im Fall von Verlusten immerhin knapp 50 Prozent mindestens ein Viertel ein.
»Menschen, die zuvor schon wenig hatten, sind besonders oft und besonders hart von wirtschaftlichen Verlusten betroffen«, warnte die wissenschaftliche Direktorin des WSI, Bettina Kohlrausch. Sie forderte eine stärkere Absicherung von Erwerbstätigen – insbesondere mit geringem Einkommen –, damit es Deutschland gelinge, »die Pandemie ohne tiefe gesellschaftliche Risse zu überstehen«. Andernfalls droht die Demokratie hierzulande auf Grund der zunehmend sozialen Spaltung Schaden zu nehmen, warnen Kohlrausch und ihre Kolleg*innen vom WSI: Menschen, die durch Einkommensverluste belastet sind, beurteilten die politische und soziale Situation im Land deutlich kritischer. Und sie zeigten sich im Durchschnitt sogar empfänglicher für Verschwörungsmythen zur Pandemie.
Bereits vor Corona sind die Unterschiede zwischen hohen und niedrigen Einkommen gewachsen. Mit der Krise verlieren vor allem die unteren Einkommen.
Die Regierungskoalition will am Freitag das Beschäftigungssicherungsgesetz beschließen. Damit soll die Anhebung des Kurzarbeitergeldes auf bis zu 87 Prozent bis Ende 2021 verlängert werden. Dass diese Maßnahme bitter nötig ist, aber dennoch nicht ausreicht angesichts der wachsenden Einkommensungleichheit während der Coronakrise, zeigt eine neue Studie. »Insbesondere Personen, die bereits vor der Krise niedrige Einkommen hatten, hatten durch die Krise häufiger Einkommenseinbußen. Im Gegensatz dazu sind Beschäftigte mit hohen Einkommen weniger von der Krise betroffen«, warnt das Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in seinem am Donnerstag veröffentlichten Verteilungsbericht.
Für ihre Studie griffen die Forscher*innen auf Daten des Sozio-Oekonomischen Panels und zweier Befragungen von mehr als 6300 Erwerbstätigen und Arbeitssuchenden im April und Juni dieses Jahres zurück. Demnach wächst der Abstand zwischen hohen und niedrigen Einkommen seit Jahren. Während das Einkommen des obersten Zehntels von 2010 bis 2017 um rund acht Prozent stieg, ging das Einkommen des untersten Zehntels um drei Prozent zurück.
Dies hat auch Auswirkungen auf den sogenannten Gini-Koeffizienten. Er ist ein gängiges Maß für die Ungleichheit und kann einen Wert zwischen 0 und 1 annehmen. 0 bedeutet, dass alle Menschen dasselbe besitzen, 1, dass sich der gesamte Reichtum auf eine Person konzentriert. 1999 lag der Gini-Koeffizient bei 0,25, 2017 waren es 0,289. Dass er mit 0,294 im Jahr 2013 zeitweilig sogar noch höher war und dann zurückging, liegt indes nicht daran, dass sich die unteren und oberen Einkommen in der letzten Zeit angenähert haben. Stattdessen ist die Entwicklung laut dem WSI-Verteilungsbericht auf Einkommenszuwächse in der Mitte zurückzuführen.
Doch auch die mittleren Einkommensgruppen geraten neben den unteren Einkommensgruppen
im Zuge der Coronakrise unter Druck. In der unteren Mittelschicht, die vor der Krise zwischen 1500 bis 2000 Euro netto zur Verfügung hatte, mussten knapp 37 Prozent Einkommeneinbußen hinnehmen. In den Gruppen zwischen 2000 und 4500 Euro monatlichem Haushaltsnetto lag der Anteil mit Verlusten bei gut 31 Prozent. Von den Befragten mit hohen Haushaltsnettoeinkommen über 4500 Euro berichteten dagegen lediglich rund 26 Prozent über Einbußen, während fast die Hälfte des unteren Zehntels auf Einkommen verzichten musste. Auch mussten Besserverdienende mit weitaus weniger Einkommensbußen zurechtkommen als Arme. In Haushalten mit mehr als 2600 Euro netto pro Monat hatten rund 30 Prozent Einbußen von mehr als einem Viertel ihres Einkommens. Dagegen büßten in der Gruppe mit maximal 2000 Euro Haushaltsnetto im Fall von Verlusten immerhin knapp 50 Prozent mindestens ein Viertel ein.
Ein weiterer Faktor, der die Höhe der Einkommenseinbußen beeinflusst, ist laut dem WSI, ob die Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifbindung arbeiten. So erhielten im Fall von Kurzarbeit im Durchschnitt 58 Prozent der Beschäftigten, die nach einem Tarifvertrag bezahlt wurden, eine Aufstockung. In Unternehmen ohne Tarifbindung waren es hingegen lediglich 34 Prozent.
Dass besonders Menschen am unteren Ende der Einkommensskala unter der Coronakrise leiden, liegt laut dem WSI daran, dass sie oft an den »Rändern des Arbeitsmarktes« arbeiten. »Dort werden sie nur unzureichend durch Schutzmechanismen in den Sozialversicherungen oder durch Tarifverträge erfasst, die viele Beschäftigte im mittleren Einkommensbereich bisher recht effektiv vor drastischen Einkommenseinbußen bewahrt haben«, erklärt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Hinzu kommt: Weil ihr Lohn schon vor der Krise gering war, landen Niedrigverdiener*innen im Falle von Kurzarbeit schnell unterhalb des Existenzminimums.
Corona macht also die Armen noch ärmer. Besonders stark trifft die Krise dabei Migrant*innen. »Bereits vor der Krise waren Personen mit Migrationshintergrund deutlich stärker von Niedrigeinkommen betroffen – konkret sogar mehr als doppelt so häufig wie Personen ohne Migrationshintergrund«, heißt es im WSI-Bericht. In der Coronakrise sind Migrant*innen nun besonders häufig von Kurzarbeit betroffen oder haben ihren Job verloren.