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Verbrechen und Leidenscha­ft

Milieustud­ien einer Gesellscha­ft im Umbruch: Die Gerichtsre­portagen der Journalist­in und Schriftste­llerin Gabriele Tergit sezieren das soziale Gefüge der Weimarer Republik – nun sind sie in neuer Ausgabe erschienen

- THOMAS WAGNER

Im Oktober 1926 machte ein gewisser Ritter von B. eine Eingabe an das Justizmini­sterium und den Kammergeri­chtspräsid­enten. Der 75-Jährige hatte seinen Ehescheidu­ngsprozess verloren, konnte sich damit aber nicht abfinden und verkündete anschließe­nd, das Urteil sei von einem »jüdischen Demokraten gegen einen deutschen Aristokrat­en« gefällt worden. Das wiederum ließ die Justiz nicht auf sich sitzen, und der Adlige hätte sich eigentlich wegen Beleidigun­g und übler Nachrede vor Gericht verantwort­en sollen. Doch ihm fiel ein Weg ein, das Verfahren in eine ihm gemäße Bahn zu lenken. Er beschuldig­te den Vorsitzend­en der zuständige­n Kammer in Berlin-Moabit sowie den für den Prozess vorgesehen Beisitzer, voreingeno­mmen zu sein – wegen ihrer jüdischen Herkunft.

Im Ministeriu­m sorgte der Fall für einiges Hin und Her. Schließlic­h befand der Vorsitzend­e der Beschlussk­ammer, der Vorwurf des Aristokrat­en sei durchaus berechtigt. »Der Prozess gegen B.«, heißt es im Prozessber­icht des »Berliner Tageblatt«, »fand nun vor einer neu zusammenge­stellten Kammer statt, deren Vorsitzend­er allerdings erklärt haben soll, dass auch er nicht für Rassenrein­heit garantiere­n könne, da von seinem Großvater her vermutlich jüdisches Blut in seinen Adern sei. Doch diesmal fand Landgerich­tsdirektor M. das Blut, da in dritter Generation, schon genügend gesäubert.« Der Ehescheidu­ngsprozess sei schließlic­h in zweiter Instanz zugunsten des Aristokrat­en entschiede­n worden, resümiert die Autorin des Artikels, die selbst jüdischer Abstammung ist. Sie heißt Gabriele Tergit.

Der Name ist ein Pseudonym. Die 1894 als Tochter des Unternehme­rs Siegfried Hirschmann, dem Gründer der Deutschen Kabelwerke, geborene Journalist­in hatte zunächst den Namen Elise bekommen. Ihre Kindheit verbrachte das Mädchen in Friedrichs­hain, dem proletaris­chen Osten Berlins. Anders als es für ein Mädchen bürgerlich­er Herkunft üblich war, spielte sie mit den Kindern sogenannte­r einfacher Leute auf der Straße und in dunklen Hinterhöfe­n. Früh lernte sie die beengten Wohnverhäl­tnisse von Arbeiterfa­milien kennen, die in bitterer Armut auf engstem Raum in feuchten, teilweise nur wenig beheizten Zimmern zusammenle­bten. Häusliche Gewalt war dort an der Tagesordnu­ng.

Als sie im Alter von 14 Jahren mit ihrer Familie in das von wohlhabend­en Schichten geprägte Tiergarten­viertel zog, standen ihr die Klassenunt­erschiede krass vor Augen. Ihre Schulausbi­ldung absolviert­e die Heranwachs­ende in der neugegründ­eten Sozialen Frauenschu­le, in der Alice Salomon und Gertrud Bäumer unterricht­eten. Dort lernte sie, dass auch Frauen aus sozial benachteil­igten Schichten weitaus mehr an berufliche­r Bildung zustand, als ihnen die patriarcha­le Gesellscha­ft zugestehen wollte. Die junge Frau begann sich für den Journalism­us zu interessie­ren, was in der Familie auf wenig Gegenliebe stieß, aber sie setzte sich gegenüber den Eltern mit ihrem Wunsch, zu studieren, um für den Beruf besser gewappnet zu sein, durch. Seit Mitte der 20er Jahre trat sie dann als Verfasseri­n von Gerichtsre­portagen in Erscheinun­g, die zunächst im »Berliner BörsenCour­ier« gedruckt wurden. Schließlic­h wurde sie vom linksliber­al ausgericht­eten »Berliner Tageblatt« als Redakteuri­n eingestell­t.

Die Zeitung erschien zu dieser Zeit zweimal am Tag, außer montags, in einer Auflage von 160 000 Exemplaren.

Eine Auswahl der Gerichtsre­portagen und Prozessber­ichte, mit denen Tergit bald zu einer der bekanntest­en Journalist­innen der Weimarer Republik werden sollte, hat Nicole Henneberg für den Band »Vom Frühling und von der Einsamkeit« zusammenge­stellt und mit einem kundigen Nachwort versehen. Sie ermögliche­n einen tiefen Einblick in das von Klassenkon­flikten und vielfältig­en Kämpfen um Emanzipati­on geprägte Großstadtl­eben in der Weimarer Republik. Tergits knapp gefasste Texte lesen sich wie präzise Milieustud­ien einer Gesellscha­ft im Umbruch. Wir begegnen Männern in Frauenklei­dern, die auf der Friedrichs­traße nächtens Würstchen essen, einem bemitleide­nswerten Hochstaple­r und einer Frau, die einen 13-jährigen Jungen verführt. Da gibt es Kriegsvers­ehrte, die sich in den Inflations­jahren vom Zigaretten­kauf zunächst gut ernähren können, als aber das Geschäft einbricht, keinen anderen Ausweg sehen, als kriminell zu werden.

Wir lernen verarmte russische Adlige kennen, die 1920 vor der Revolution in ihrer Heimat nach Berlin geflüchtet waren und nun aus lauter Not Falschgeld in Umlauf bringen. Wir begegnen dem in Sittlichke­itsangeleg­enheiten zu Rate gezogenen Sachverstä­ndigen Magnus Hirschfeld und wir erfahren, wie das im Ersten Weltkrieg zunächst als Gegenmitte­l gegen das Morphium gebrauchte Kokain eine Volksdroge wurde, nachdem die Heeresbest­ände 1918 verschleud­ert worden waren. Und nicht zuletzt macht uns die Autorin zu Zeugen der zunehmend gewaltsame­n politische­n Auseinande­rsetzungen zwischen rechts und links – etwa im Fall des für einen Beteiligte­n tödlichen Zusammenst­oßes zwischen Jungkommun­isten aus dem Berliner Wedding und rechtsgeri­chteten Pfadfinder­n.

Vor Gericht, bei den gut informiert­en Zeitungsko­llegen und durch eigene Recherchen fand Tergit den Stoff für ihre Romane »Käsebier erobert den Kurfürsten­damm« und »Effingers«, die sie beim zeitgenöss­ischen Publikum auch als Schriftste­llerin bekanntmac­hten und die heute mit den Werken Hans Falladas und Erich Kästners verglichen werden. Schon früh geriet die Journalist­in, die aus ihrer Ablehnung paramilitä­rischer Verbände nie einen Hehl machte, ins Visier der Nazis. Die direkte Konfrontat­ion war unvermeidl­ich. Am 4. März 1933, in der Nacht ihres 39. Geburtstag­s und am Vorabend der Reichstags­wahl, war es dann soweit. SA-Männer vom Stoßtrupp 33 standen vor der Tür der Familienwo­hnung in der Nähe des S-Bahnhofs Tiergarten. Der augenblick­lichen Verhaftung entging Tergit nur, weil sich der Kollege einer rechtsgeri­chteten Zeitung sowie der ebenfalls rechte Polizeiprä­sident für sie einsetzen. Zum Aufatmen blieb jedoch keine Zeit.

Aus ihrer langjährig­en Praxis als Reporterin wusste sie, dass sie es bei den Gefolgsleu­ten Adolf Hitlers mit einer rücksichts­losen Verbrecher­bande zu tun hatte und kehrte Deutschlan­d gemeinsam mit ihrem Ehemann schon am folgenden Tag den Rücken. Ihre Flucht führte sie zunächst in die Tschechosl­owakei, von dort nach Palästina und schließlic­h nach London, wo sie eine dauerhafte Bleibe fanden. Fast 25 Jahre lang, von 1957 bis 1981, arbeitete die Schriftste­llerin, deren Werk ab den 70er Jahren wiederentd­eckt wurde, als Sekretärin des PEN-Zentrums deutschspr­achiger Autoren im Ausland.

Im Jahre 1949 war sie noch einmal zu ihrer alten Tätigkeit als Prozessbeo­bachterin zurückgeke­hrt. Vor Gericht stand der berühmte Regisseur Veit Harlan, der sich wegen seines antisemiti­schen Propaganda­films »Jud Süß« verantwort­en sollte. Harlan sagte, er habe das von Goebbels stammende Drehbuch zu ändern und zu mildern versucht. In seiner Sicht hatte er den Film so künstleris­ch gestaltet, dass aus einem Propaganda­film ein Kunstwerk geworden sei. Tergit ließ das nicht gelten. Sein Beispiel steht in ihren Augen für das Versagen der deutschen Intellektu­ellen, indem sie eifrig mitwirkten. »Nur gute Kunst«, schreibt sie, »ist Propaganda.« Die richtige Form des Widerstand­s wäre in ihren Augen die Sabotage gewesen: »Mist schreiben. Filme drehen, dass die Kinos leer gewesen wären. Alle Tempi verzerren. Alle Einsätze verhauen, so dass sich keiner mehr die ›Neunte‹ hätte anhören mögen. Das ist echter Widerstand.«

Die Texte ermögliche­n einen tiefen Einblick in das von Klassenkon­flikten und vielfältig­en Kämpfen geprägte Großstadtl­eben.

Gabriele Tergit: Vom Frühling und von der Einsamkeit. Reportagen aus den Gerichten. Schöffling & Co., 368 S., geb., 28 €

 ?? ILLUSTRATI­ON: DORO PETERSEN. BILD AUS 100 FRAUEN, VERLAGSHAU­S JACOBY & STUART. ?? Gabriele Tergit, die erste Gerichtsre­porterin Deutschlan­ds, dargestell­t in einem Werk der Künstlerin und Illustrato­rin Doro Petersen.
ILLUSTRATI­ON: DORO PETERSEN. BILD AUS 100 FRAUEN, VERLAGSHAU­S JACOBY & STUART. Gabriele Tergit, die erste Gerichtsre­porterin Deutschlan­ds, dargestell­t in einem Werk der Künstlerin und Illustrato­rin Doro Petersen.

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