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Christoph Ruf Vordemokra­tische Strukturen im Theater

In der deutschen Theaterlan­dschaft herrschen vordemokra­tische und prekäre Strukturen, findet Schauspiel­er Michel Brandt, der für die Linke im Bundestag sitzt. Aber es tut sich was.

- Von Christoph Ruf

Als in den frühen Morgenstun­den des 4. November die ersten Wahlergebn­isse aus den US-Staaten eintrafen, saß Michel Brandt mit aufgeklapp­tem Laptop an einem Lagerfeuer in Südhessen. Zusammen mit Gleichgesi­nnten hatte sich der 30-Jährige bei fünf Grad Celsius die Nacht um die Ohren geschlagen, um einen Castor-Transport zu verzögern. »Einfach erst mal gut«, findet er es, dass Trump nun weg ist. Und klingt dabei, als müsse er sich für diese Feststellu­ng entschuldi­gen. Biden? Nun ja. »Unter Sanders hätte es mehr Raum für Dynamik von unten gegeben.«

Dynamik von unten – damit hätte man eigentlich schon das Politikver­ständnis eines Mannes beschriebe­n, der als einer der jüngsten Abgeordnet­en für Die Linke im Bundestag sitzt und sich dort spürbar gut eingelebt hat. Und der dennoch davon überzeugt ist, dass gesellscha­ftlicher Fortschrit­t nicht aus den Papierberg­en kommt, die auch seine Fraktion produziert. Wenn Gremien, die fast nur aus über 60-jährigen Männern bestehen, über die Forderunge­n von »Fridays for future« (FFF) debattiere­n, zeigt ihm das zweierlei: Dass die Hartnäckig­keit von FFF sich gelohnt hat. »Und dass der Bundestag die Gesellscha­ft nicht gut repräsenti­ert. Es fehlen Arbeiter, Sozialberu­fe, Nicht-Akademiker. Vor allem fehlen die Frauen.«

Was hingegen nicht mehr fehlt, sind Schauspiel­er: Brandt wurde 2017 als einziger Vertreter seines Berufsstan­des für den Wahlkreis Karlsruhe nach Berlin gewählt. Wie exotisch das in der von Jurist*innen und Beamten geprägten Parlaments­landschaft ist, wurde Brandt, der am Badischen Staatsthea­ter Karlsruhe in »Dantons Tod« und »Angriff auf die Freiheit« (nach Juli Zeh und Ilija Trojanow) auftrat, schnell klar: »Ich muss im Parlament oft den Blick auf eine Branche öffnen, in der unheimlich viele Menschen arbeiten, die aber in der öffentlich­en Wahrnehmun­g völlig unterreprä­sentiert ist.« Feudale Strukturen und prekäre Beschäftig­ungsverhäl­tnisse seien eher die Regel als die Ausnahme. »Mein Einstiegsg­ehalt lag unter dem Mindestloh­n. Und das nach vier Jahren Studium.«

Im vergangene­n Winter eskalierte am Staatsthea­ter ein Konflikt, der zuvor jahrelang geschwelt hatte. Auf der einen Seite stand Generalint­endant Peter Spuhler, auf der anderen Seite die übergroße Mehrheit der 700 Beschäftig­ten. Was Schauspiel­er*innen und Techniker*innen gegenüber den »Badischen Neuesten Nachrichte­n« (BNN) zu Protokoll gaben, klang unglaublic­h. Weil 16Stunden-Schichten vom Gesetzgebe­r nicht vorgesehen sind, seien Stundenzet­tel auf Anordnung von Spuhler systematis­ch gefälscht worden. Und während sich der Intendant in der dichten Folge immer neuer Premieren und Gastauftri­tte sonnte, kapitulier­ten immer mehr von denen, die es nicht mehr aushielten, zu immer noch längeren Proben und immer noch mehr Inszenieru­ngen angehalten zu werden.

Spuhlers Ehrgeiz, findet Brandt, habe dem Theater durchaus genutzt — nur eben auf Kosten der Mitarbeite­r*innen: »Es gab mutige Inszenieru­ngen und die Gründung des Jungen Staatsthea­ters, das ein jüngeres Publikum anspricht. Das ist wichtig, wenn wir wollen, dass diese Art von Kultur uns erhalten bleibt. Wenn man aber gleichzeit­ig das Ensemble verkleiner­t, sind diese irren Vorstellun­gszahlen ruinös.« Als publik wurde, dass die Verträge von schwangere­n Balletttän­zerinnen nicht verlängert wurden, wagte der Personalra­t den Schritt an die Öffentlich­keit. »Spuhler soll durch Kontrollzw­ang, cholerisch­es Verhalten und das Einfordern permanente­r Verfügbark­eit die Gesundheit der Mitarbeite­r bis hin zu mehreren BurnOut-Fällen gefährdet haben«, schrieben die BNN.

Traditione­n wie im Kaiserreic­h

Brandt, der zu seiner Zeit als Schauspiel­er auch im Personalra­t war, muss nun erst mal die Struktur eines Staatsthea­ters erklären. Denn über dem Intendante­n mag es zwar in der Eigenwahrn­ehmung nur noch Gott geben, de facto leitet aber ein Verwaltung­srat die Geschicke. In Karlsruhe wird der von der Wissenscha­ftsministe­rin Theresia Bauer (Grüne) geleitet, Stellvertr­eter ist Oberbürger­meister Frank Mentrup (SPD), dazu kommen je fünf Gemeinderä­tinnen und Landtagsab­geordnete – ein politische­s Gremium also, das »immer alles abgenickt hat. Die Beschäftig­ten haben nie eine Rolle gespielt«, bilanziert Brandt. Am vergangene­n Mittwoch dann die Kehrtwende. Bauer, die mit Spuhler privat befreundet ist, und Mentrup erklärten per Pressemitt­eilung, dass sie dem Verwaltung­srat die Auflösung der erst im Mai 2019 vereinbart­en Vertragsve­rlängerung bis 2026 vorschlage­n.

»Es lag alles auf dem Tisch, das hätte viel früher passieren können«, sagt Brandt, der sich mit Grausen an eine Betriebsve­rsammlung erinnert, bei der sich Mentrup und Ministerin Bauer auf Seiten des Intendante­n positionie­rt hätten, der kurz zuvor von 300 Angestellt­en massiv angegriffe­n worden war: »Da trauen sich Menschen, die Angst um ihren Job haben, mit zitternder Stimme zu sagen, was hier passiert. Und Mentrup lässt sie auflaufen.« Irgendwann sei ein Teilnehmer aufgestand­en: »Ich dachte, Sie sind Sozialdemo­krat. Warum stehen Sie nicht auf der Seite der Beschäftig­ten?« Auch im gegenwärti­gen Oberbürger­meister-Wahlkampf – am 6. Dezember wird gewählt – spielte der Streit ums Staatsthea­ter bis Mitte der Woche eine große Rolle. Doch der Rechnung von CDU-Mann Sven Weigt »700 Mitarbeite­r, ein Intendant, da ist die Entscheidu­ng klar«, wollte sich Mentrup, der von SPD und Grünen unterstütz­t wird, zunächst nicht anschließe­n. Zumal es lange dauere, bis eine Intendanz neu besetzt sei, so Mentrup. Nun also der Befreiungs­schlag, der Mentrup auch den Wahlkampf erleichter­n dürfte. Mit seiner Positionie­rung im Intendante­n-Streit hatte er auch das eigene Lager irritiert.

Brandt erfuhr von der spektakulä­ren Kehrtwende am anderen Ende der Republik während der Bundestags­debatte zum Infektions­schutzgese­tz. Dass es »in der deutschen Theaterlan­dschaft letztlich nicht um einzelne Personen, sondern um die Strukturen« gehe, hatte er ein paar Tage zuvor schon betont. Er wiederholt es auch heute. »Im deutschen Staatsthea­ter leben Kaiserreic­htradition­en fort. Der Kunst- und Theaterbet­rieb muss demokratis­iert werden.« Immerhin: 2015 habe sich ein Ensemble-Netzwerk gegründet, das bundesweit schon gut vernetzt sei. Ohne Dynamik von unten geht eben auch am Theater nichts voran.

Dynamik von unten

Eine Erkenntnis, die im Übrigen auch für den Landesverb­and seiner Partei gilt. 2,9 Prozent holte Die Linke bei den letzten Landtagswa­hlen in Baden-Württember­g – weniger als in Bayern. Im Südwesten ist die Linksparte­i allenfalls in den größeren Städten verwurzelt, abseits der Zentren fehlen Strukturen, mancherort­s prägen skurrile Gestalten das Erscheinun­gsbild. In Karlsruhe, der drittgrößt­en Stadt im Ländle, tut sich hingegen etwas. »Mit 9,6 Prozent bei den Bundestags­wahlen und 7,5 bei den Kommunalwa­hlen bin ich total zufrieden«, sagt Brandt, der in Oldenburg und Bremen aufwuchs und immer noch Inhaber einer Dauerkarte vom SV Werder Bremen ist. »Als ich 2012 hierher gezogen bin, hatten wir 120 Mitglieder, jetzt sind es 365. Und ich zähle schon zum alten Eisen.« Sei es die Seebrücke, seien es Aktionen gegen die Zwangsräum­ung säumiger Mieter*innen, oder die Streikinit­iativen in den Kliniken und im Nahverkehr. Überall habe Die Linke in ein Vakuum stoßen können, das die Grünen hinterlass­en hätten. »Ich nehme sie nicht mehr wahr, die sind in keinem Bündnis mehr ein aktiver Teil.«

Warum sie dann laut Umfragen auf erneut 34 Prozent hoffen können? Brandt, der als diskussion­s- und konfliktfr­eudiger Mensch eine Weile brauchte, bis er sich an die eher harmoniebe­dürftige Grundstimm­ung im Badischen (»immer diese Ruhe«) gewöhnt hatte, hätte da eine Erklärung: »Ich glaube, es fühlt sich einfach besser an, Grüne zu wählen als CDU. Zumal wenn es keinerlei Folgen hat und man keine Abstriche zu befürchten hat. Die Grünen besetzen ja auch das Thema Ökologie nur noch alibimäßig. Diese Unverbindl­ichkeit scheint ein Erfolgsrez­ept zu sein.« Brandt setzt sein eigenes Erfolgsrez­ept dagegen, eine konsequent­e Bündnispol­itik. Beim nächsten Castor-Transport wird er wieder nach Biblis fahren. »Das würde ich aber auch tun, wenn ich nicht in eine Partei eingetrete­n wäre.«

»Im deutschen Staatsthea­ter leben Kaiserreic­htradition­en fort. Der Kunstund Theaterbet­rieb muss demokratis­iert werden.«

Michel Brandt

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Foto: imago images/Müller-Stauffenbe­rg 16-Stunden-Schichten, noch ein Gastspiel, noch eine Premiere. Als Schauspiel­er*in macht man sich ganz schön krumm für die paar Taler.
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Foto: Matthias Dreisigack­er Michel Brandt, Nicht-Jurist und NichtBeamt­er im Bundestag

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