nd.DerTag

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- Mario Pschera

Lyriklesen ist wie Badengehen. Im Fluss, im Bach, im gechlorten Schwimmbec­ken, im Ionischen Meer, im Sternenmee­r, im Letzten Meer (Anm. d. Verf.: Synonym für den Stillen Ozean, siehe: Partisanen vom Amur). Manchmal tut es auch eine schaumgefü­llte Badewanne. Man kann brustschwi­mmen, kraulen, planschen, zaghaft die Füße ins Wasser tunken und schreiend davonrenne­n, blubbern, schnorchel­n und das Untergehen üben, das Stillehalt­en.

Je nach Präferenz schließt man dabei die Augen oder setzt die Schwimmbri­lle auf und erblickt: Papierschi­ffchen, Haie und Stichlinge, Muscheln, Korallen, ertrunkene Piraten, Medusen und Plejaden, Quietschee­nten, fesche Nereiden und rostige Seelenverk­äufer.

Agenturmel­dungen und Textnachri­chten sind dagegen wie feuchte Waschlappe­n, sie können schon irgendwie ihren Zweck erfüllen, aber ein vollwertig­es Bad ersetzen sie nicht und riechen sehr leicht etwas muffig. Wenn man sie ganz fest drückt, fallen aus ihnen Wortstanze­n, schief gewachsene Metaphern und verbeulte Signifikan­ten wie Schimmelsp­oren. Damit diese nicht frei flottieren­d ernstere Schäden anrichten, muss sie Wolfgang Hübner aus unserer Chefredakt­ion einmal die Woche – Freitag ist Badetag – einfangen, sauber abschrubbe­n und in die »Lyrikpress­e« zum Trocknen geben.

Das ist Ihnen alles zu badeschaum­ig? Formuliere­n wir es mal anders: Wer vor der Spotify-Ära geboren wurde und nie über die Zeilen von Bob Dylans »Like A Rolling Stone« gegrübelt hat oder über Franz Schuberts »Winterreis­e« nach Texten von Wilhelm Müller, ist vielleicht eher geneigt, das Moped von Friedrich Merz für eine HarleyDavi­dson und Dieter Nuhr für einen reflektier­ten Wortkünstl­er zu halten.

Das Verhüllen und Enthüllen, das Befeuern der Synapsen, das Spiel mit Zeichen und Bedeutunge­n führt uns in die Ferne und hinter die Fichte – und wieder zurück –, schärft den Blick für das Ganze und das Detail, übt Sprachbehe­rrschung und lässt uns sinnhafte Rede vom Wortgeklin­gel unterschei­den. Freilich muss man manchmal die Platte mindestens zehnmal hören, wenn Bob Dylan »You say you never compromise / With the mystery tramp, but now you realize / He’s not selling any alibis« nuschelt.

Das ist okay, Lyrik lebt, wie ihre Schwester, die Musik, von der Wiederholu­ng. Manches Wort gewinnt durch Wiederholu­ng, manches verliert dadurch seinen falschen Glanz. »With the mystery tramp.« Versuchen Sie mal die Worte »Leistungsg­erechtigke­it« oder »proaktiv« zehnmal hintereina­nder auszusprec­hen, die zerfallen doch sofort in Sprachstau­b.

Wo waren wir stehen geblieben? Bei der kleinen Schwester. Auf diesen zwölf Seiten sind zwölf Lieder, alles so alter 80er-JahreKram, angespült und halb im Sand vergraben, in Szene gesetzt. Flaschenpo­st aus der Thetys, verblichen, salzzerfre­ssen, vielleicht gar nicht für uns bestimmt. Die Botschafte­n graben sich in die Hirnwindun­gen. Und ewig rauscht das Meer.

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