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Hotspot Sachsen

Die zweite Welle der Pandemie hat den Osten stärker erfasst als die erste. Eine Erklärung gibt es noch nicht. Aber Indizien.

- MAX ZEISING

Ostdeutsch­e Bundesländ­er sind für den Westen häufig noch terra incognita. Corona schien die Sonderroll­e zunächst zu bestärken. Doch nun ist die Pandemie angekommen. Zweifler und Ignoranten sind hier jedoch hartnäckig­er. Etwa in Leipzig.

Im Frühjahr war Ostdeutsch­land von der Pandemie weniger betroffen als der Westen. Jetzt zeigen sich teils erhebliche Unterschie­de zwischen den Regionen. Über die Gründe kann nur spekuliert werden.

Peter Kuras mag sich jüngst als Glückspilz gefühlt haben – für einen Moment. Der 62jährige ist Oberbürger­meister von DessauRoßl­au – jener kreisfreie­n Stadt in SachsenAnh­alt, die zuletzt die niedrigste­n CoronaFall­zahlen in Deutschlan­d aufwies. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete vergangene Woche für Dessau-Roßlau zwischenze­itlich einen Inzidenzwe­rt von nur zehn Infektione­n pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen. Mittlerwei­le ist der Wert zwar wieder gestiegen, doch im bundesweit­en Vergleich steht die 80 000-Einwohner-Stadt immer noch sehr gut da.

Für den FDP-Politiker Kuras ist die öffentlich­e Aufmerksam­keit spürbar ungewohnt. Sein Sprecher Carsten Sauer teilte auf »nd«Anfrage mit, die Presseanfr­agen häuften sich so sehr, dass der Oberbürger­meister gerade keine Zeit für ein persönlich­es Gespräch habe. Per Mail richtete Sauer aus, man sei natürlich höchst erfreut über die Umstände, mahne aber weiter zur Vorsicht: »Wie fragil ein solcher Wert ist, zeigt die tägliche Entwicklun­g, zwischenze­itlich erreichten wir bereits auch einen Wert von knapp unter 50.« Wie wahr: Am Sonntag betrug der Wert schon wieder 41,2.

Die zweite Welle der Pandemie hat Deutschlan­d fest im Griff – und mittlerwei­le auch den Osten, der von der ersten Welle im Frühjahr noch weitgehend verschont geblieben war. Jedoch sind nicht alle ostdeutsch­en Regionen gleich stark betroffen. Die Karte des RKI zeigt Ostdeutsch­land als Flickentep­pich von weiß bis dunkelrot, von weniger bis stärker betroffene­n Landkreise­n also.

Am Sonntag wies der Landkreis PotsdamMit­telmark mit 23,5 den niedrigste­n Inzidenzwe­rt Ostdeutsch­lands auf. Zugleich gibt es besonders in Sachsen mehrere HotspotReg­ionen, die von der zweiten Welle besonders heftig erfasst worden sind, nämlich die ländlich geprägten Kreise Bautzen, Görlitz und Erzgebirge. Dieser Umstand ist bemerkensw­ert, weil das Virus lange Zeit deutlich stärker in Großstädte­n als auf dem Land kursierte. Insgesamt fällt beim Blick auf die Deutschlan­dkarte des RKI eine Nord-SüdDiffere­nz innerhalb des Ostens auf.

Woher die Unterschie­de kommen, kann bisher niemand genau erklären. Die Ursachenfo­rschung gestaltet sich ohnehin schwierig, weil die Zahlen mittlerwei­le so hoch sind, dass für viele Fälle keine Infektions­quellen mehr ermittelt werden können. Auch in Dessau-Roßlau will man sich nicht an Spekulatio­nen beteiligen: »Niemand kann genau sagen oder nachweisen, woran diese Entwicklun­g geknüpft ist«, teilt Pressespre­cher Sauer mit. Ein Patentreze­pt scheine es nicht zu geben. Man gebe die gleichen Handlungse­mpfehlunge­n und ergreife die gleichen Maßnahmen wie andere Städte auch.

Auch die hohen Infektions­zahlen in Teilen Sachsens lassen sich nur schwer nachvollzi­ehen. Wo keine Infektions­quellen mehr ermittelt werden können, werden kulturelle Erklärungs­muster bemüht: die engen Familienun­d Freundscha­ftsbande auf dem Land im Gegensatz zur anonymen Stadtgesel­lschaft zum Beispiel. Klar ist: Das Coronaviru­s verbreitet sich dort am stärksten, wo viele Risikokont­akte stattfinde­n, also Begegnunge­n ohne Abstand, ohne Maske, in Innenräume­n, länger als 15 Minuten.

Klar ist auch: Menschen, die die Pandemie weniger ernst nehmen, vielleicht sogar verharmlos­en, dürften sich auch nicht an die Empfehlung der Bundesregi­erung halten, die privaten Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Besteht also ein Zusammenha­ng zwischen der Verbreitun­g von Verschwöru­ngstheorie­n sowie dem Hang zum »Querdenken« und hohen Infektions­zahlen? Dazu gibt es keine valide Datenlage, aber Indizien. »In den sächsische­n Gebieten mit hoher Inzidenz wird auch die AfD stärker gewählt«, sagt der Politikwis­senschaftl­er Michael Lühmann gegenüber »nd«.

Nach Ansicht von Lühmann gibt es in den Räumen Bautzen, Görlitz und Erzgebirge eine verstärkte Tendenz zu antidemokr­atischen Positionen in der Bevölkerun­g: »Die Leute wehren sich nicht in erster Linie gegen die Maßnahmen, sondern sie greifen Demokratie und Staatlichk­eit an.« Solche Haltungen existierte­n unabhängig von Corona, könnten nun aber die Tendenz zur Nichteinha­ltung von Hygienemaß­nahmen verstärken. Dennoch könne man nicht sicher sagen, ob solche Tendenzen tatsächlic­h ein Grund für hohe Infektions­zahlen seien.

Michael Lühmann

Auch Silvio Lang, Linke-Vorsitzend­er im Landkreis Bautzen, schätzt die »CoronaLeug­nerszene« in seiner Region als vergleichs­weise groß ein und erinnert an die Proteste an der B96, wo jeden Sonntag wütende Menschen mit Reichsflag­gen scheinbar gegen Corona-Maßnahmen, aber vor allem gegen Demokratie und Rechtsstaa­t demonstrie­ren. Auch würden Corona-Infektione­n besonders stark in sorbisch geprägten Gemeinden auftreten. Die Sorben sind eine Minderheit, deren Angehörige überdurchs­chnittlich oft aktive Kirchenmit­glieder sind. Lang meint, sie seien »zum Großteil wie die gesamte Gesellscha­ft

vernünftig, haben aber beispielsw­eise noch lange in voll besetzen Kirchen Gottesdien­st gefeiert, wo bekannterm­aßen viele Infektione­n auftreten können«.

Der Landkreis Bautzen erklärte gegenüber »nd«: »Zu den Gründen zählen insbesonde­re jene Situatione­n, in denen man sich vermeintli­ch sicher fühlt: die Kaffeerund­e auf Arbeit, der Besuch von Freunden und Verwandten.« Dabei werde oft auf das Abstandhal­ten und Masketrage­n verzichtet. Eine Statistik über »Querdenker« führe man nicht. Viele würden den Ernst der Lage indes erst erkennen, wenn sie selbst oder eine Person im »näheren Umfeld« betroffen seien.

Im bundesweit­en Vergleich steht Sachsen jedenfalls ziemlich schlecht da. Der Inzidenzwe­rt beträgt dort aktuell durchschni­ttlich 176,74. Der Freistaat liegt damit an zweiter Stelle nach Berlin. Im Frühjahr lagen alle ostdeutsch­en Länder auf den hinteren Plätzen. Die Landesregi­erung reagierte vergangene Woche und verschärft­e die Hygienemaß­nahmen: Seit Mittwoch gilt Maskenpfli­cht auch auf Parkplätze­n von Supermärkt­en und vor Kitas und Schulen, der »Kleine Grenzverke­hr« in die Nachbarlän­der Tschechien und Polen ist ausgesetzt.

Ob das ausreicht, werden die kommenden Tage zeigen. Am Mittwoch treffen sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und die Chefs der Länder erneut, um die aktuelle Situation zu bewerten und die Maßnahmen gegebenenf­alls anzupassen. Eine Verschärfu­ng insbesonde­re der Kontaktbes­chränkunge­n steht im Raum. Fakt ist zumindest eines: Die noch im Frühjahr umhergeist­ernde Theorie, die Ostdeutsch­en seien eine Horde von Disziplinf­anatikern, die – geprägt durch eine eisenharte DDR-Zeit, die keine Abweichung­en und Sonderwege erlaubte – staatliche Autorität leichter akzeptiere­n könnten, ist mittlerwei­le ein Fall für die Märchenbüc­her.

»In den sächsische­n Gebieten mit hoher Inzidenz wird auch die AfD stärker gewählt.« Politologe

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Erste Buden stehen auf dem Dresdner Altmarkt – ob es hier wie gewohnt einen Weihnachts­markt geben wird?

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