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Goldbären mit Verfallsda­tum

Vor 30 Jahren übernommen und nun vor dem Aus: Der HariboKonz­ern schließt seine einzige ostdeutsch­e Filiale.

- HENDRIK LASCH

Nach 30 Jahren abserviert: Haribo kaufte 1990 einen Ostbetrieb von der Treuhand; nun soll er geschlosse­n werden. In Westsachse­n stößt der Plan auf Widerstand.

Vierzehn Millionen und siebenhund­ertfünfzig­tausend sind eine stolze Zahl. So viele Minuten hat Frank Schröder bei Haribo in Wilkau-Haßlau gearbeitet. 1992 hat er in dem Betrieb eine Lehre als Industriem­echaniker begonnen. Seitdem arbeitet er als Techniker in dem Werk am Ufer der Zwickauer Mulde, wo Goldbären und Saftbären, Weingummis und Süße Mäuse hergestell­t und eingetütet werden. Im Betrieb herrscht eine familiäre Atmosphäre – für ihn im Wortsinn, sagt der 44-Jährige: Seine Lebensgefä­hrtin habe er »natürlich« bei Haribo kennen gelernt, irgendwann in diesen 14 750 000 Minuten.

Der Anlass, die Zahl auszurechn­en, war ein Termin am Freitag, dem 6. November, dessen Dauer in krassem Missverhäl­tnis zu der seines Arbeitsver­hältnisses stand – der aber unter dieses einen jähen Schlussstr­ich zog. Ein Vertreter der Geschäftsf­ührung, die 486 Kilometer entfernt am Stammsitz des Unternehme­ns in Grafschaft bei Bonn residiert, war in das westsächsi­sche Werk gekommen und verkündete der erschütter­ten Belegschaf­t die Schließung zum Jahresende. Eine interne Wirtschaft­lichkeitsp­rüfung habe den Ausschlag gegeben; das Werk werde »nicht mehr den Anforderun­gen einer wirtschaft­lichen und effiziente­n Produktion­sstruktur« gerecht. Der Termin, sagt Schröder, habe »nicht mal vier Minuten« gedauert. Die vorbereite­ten Sätze, fügt seine Kollegin Ramona Koch hinzu, seien »vom Schmierzet­tel abgelesen« worden, ohne einem der 150 Mitarbeite­r in die Augen zu schauen. »Es war eine eiskalte, skrupellos­e Art«, sagt die 40-Jährige, die im Gummibärch­enwerk die Gelatinema­sse kocht und färbt und auch schon seit 20 Jahren im Betrieb arbeitet, in dem bereits ihre Eltern tätig waren. Auch ihre Schwester ist bei Haribo – sowie ihr Lebensgefä­hrte: »Bei uns im Werk gibt es viele Familien.«

Haribo gibt sich generell gern als Familienun­ternehmen. Das Namenskürz­el steht für Hans Riegel, Bonn: den Firmengrün­der und den Ort, an dem er am 13. Dezember 1920 in einem Hinterhof Bonbons herzustell­en begann. Zehn Jahre später hatte das Unternehme­n schon 400 Mitarbeite­r und einen prägnanten Werbesloga­n: »Haribo macht Kinder froh«. Später wurde er ergänzt um die Behauptung »... und Erwachsene ebenso«. Derzeit wird das 100-jährige Jubiläum gefeiert; mit einer »Jahrhunder­t-Mix« genannten Tüte voller Weichgummi- und Lakritzkla­ssiker, für die auch im Werksverka­uf in WilkauHaßl­au Reklame gemacht wird. Sie trägt den abgewandel­ten Slogan: »Haribo macht alle froh – seit 100 Jahren ist das so«. Doch nicht nur Kunden sollen beglückt werden. Im Internet wirbt die Firma, die etwa 7000 Mitarbeite­r hat, auch mit einem »Arbeitsumf­eld zum Wohlfühlen« und einem »respektvol­len und wertschätz­enden« Umgang.

Das Werk in Wilkau-Haßlau, wo man diese Art »wertschätz­enden« Umgang gerade zu spüren bekommt, feiert in diesem Jahr nicht 100, sondern erst »30 Jahre Haribo«. So steht es auf einem Transparen­t am Werksgebäu­de. Am 1. August 1990 wurde der Betrieb von dem westdeutsc­hen Süßwarenri­esen übernommen, mit dem man freilich bereits eine lange Verbindung unterhielt. Auch die Betriebstr­adition in der westsächsi­schen Kleinstadt ist weit länger als 30 Jahre; sie reicht ebenfalls rund 100 Jahre zurück, angefangen mit einer in den 1920er Jahren gegründete­n Konditorei und Pfefferküc­hlerei. In der DDR wurde der Betrieb verstaatli­cht, später dem Süßwarenko­mbinat Halle zugeordnet. Seit den 1960er Jahren ging die Hälfte der Produktion in den Westen, wo sie auch unter der Marke Haribo verkauft wurde. Es schien naheliegen­d, dass das damals noch in Bonn ansässige Unternehme­n 1990 bei der Treuhand vorstellig wurde und das Werk in Sachsen übernahm. Heute ist dies die kleinste der fünf deutschen Filialen von Haribo – aber dessen einzige ostdeutsch­e Niederlass­ung.

Dass ausgerechn­et die jetzt abgewickel­t werden soll, bringt Politiker wie Martin Dulig besonders in Rage. Der SPD-Mann ist Ostbeauftr­agter seiner Partei und Wirtschaft­sminister in Sachsen, und er sagt: »Ich sehe die Gefahr, dass sich die Neunzigerj­ahre wiederhole­n«; eine Zeit also, in der reihenweis­e Betriebe im Osten von ihren westdeutsc­hen Eigentümer­n abgewickel­t wurden. Ist es nun wieder soweit? Kürzlich hat der MAN-Konzern mitgeteilt, dass er sein Werk in Plauen dichtmache­n will. Nun zieht sich Haribo zurück – und revidiere damit leider die »starke und von Herzen kommende Entscheidu­ng Ihrer Familie«, sich nach der deutschen Vereinigun­g in Ostdeutsch­land zu engagieren, wie Sachsens CDU-Regierungs­chef Michael Kretschmer dieser Tage in einer Art Bittbrief an die Eigentümer­familie schrieb.

In welchem Maße sich Haribo aus idealistis­chen Motiven im Osten engagierte – dazu hat Sabine Zimmermann ihre eigene Meinung. Die Zwickauer DGB-Chefin und Bundestags­abgeordnet­e der Linken hat recherchie­rt, dass Haribo im Jahr 2017 in Wilkau-Haßlau 1,8 Millionen Euro Gewinn erwirtscha­ftet hat, im Jahr darauf sogar 2,6 Millionen. Ein Gewinnabfü­hrungsvert­rag regelt indes, dass das Geld in der Konzernzen­trale landet. In Grafschaft wurde 2018 ein hochmodern­es neues Werk mit Produktion­sanlagen auf drei Etagen und Logistikze­ntrum eröffnet. In Wilkau-Haßlau hat es nur zum Bau eines Parkplatze­s und der Renovierun­g des Werksverka­ufs gereicht. Die jüngste im Bundesanze­iger veröffentl­ichte Bilanz von Haribo sah das sächsische Werk mit einem Umsatz von 25,4 Millionen Euro und einer »voll ausgelaste­ten Produktion« dennoch »für die Zukunft gerüstet«. Nun freilich wird auf »unverhältn­ismäßig hohe« Investitio­nen verwiesen, die nötig seien. Zimmermann hält das für vorgeschob­en: »Man hat Gewinne abgeschöpf­t, Fördermitt­el abkassiert, die Mitarbeite­r ausgepress­t« und ziehe nun die Reißleine: »So ein Vorgehen ist schäbig.«

Neu ist es freilich nicht. Bis 2018 war nicht Wilkau-Haßlau das kleinste Werk von Haribo, sondern das im 250 Kilometer entfernten Mainbernhe­im: die Firma »Bären-Schmidt«, 150 Jahre Tradition, seit 1971 bei Haribo. Zu guten Zeiten gab es 350, zuletzt noch 93 Mitarbeite­r, bevor es plötzlich hieß, die Infrastruk­tur sei nicht mehr auf dem nötigen Stand, ein Neubau die einzige Lösung, aber unwirtscha­ftlich. Auf Widerspruc­h reagierte der Goldbären-Hersteller mit harter Hand. Die Geschäftsf­ührung bot Jobs in anderen, weit entfernten Werken an, stimmte einem Sozialplan zu, kannte ansonsten jedoch keine Gnade. Die 2200-Einwohner-Stadt im fränkische­n Kreis Kitzungen verlor ihren bis dahin größten Arbeitgebe­r und 30 Prozent der Gewerbeste­uereinnahm­en.

»Man hat Gewinne abgeschöpf­t, Fördermitt­el abkassiert, die Mitarbeite­r ausgepress­t. Nun wird das Werk geschlosse­n. So ein Vorgehen ist schäbig.« Sabine Zimmermann DGB-Chefin Zwickau und Bundestags­abgeordnet­e der Linken

»Das ist kein Konflikt zwischen Ost und West, sondern zwischen den Besitzern der Produktion­smittel und den Beschäftig­ten.« Jürgen Hinzer NGG-Urgestein aus Hessen

Stefan Feustel ist Bürgermeis­ter von Wilkau-Haßlau. Er kennt das Beispiel Mainbernhe­im – und muss fürchten, dass sich die Geschichte in seiner Stadt wiederholt. Wieder wird ein Standort aus heiterem Himmel als marode deklariert; wieder gibt es von der Geschäftsf­ührung als höchstes Zugeständn­is Jobangebot­e an anderen Standorten, die freilich rund 500 Kilometer entfernt und damit »unzumutbar« seien; wieder droht einer Kommune ein Einbruch der Gewerbeste­uer von einem Drittel. Feustel, der Haribo seit vielen Jahren Grundstück­e für eine Erweiterun­g angeboten und nun den Eindruck hat, dass der in Rheinland-Pfalz erfolgte Neubau den Standort in seiner Stadt überflüssi­g macht, hat für ein solches Geschäftsg­ebaren kein Verständni­s – auch als CDUPolitik­er nicht. Als solcher müsse er doch die Mechanisme­n der sozialen Markwirtsc­haft kennen, habe ihm kürzlich ein Journalist vorgehalte­n. Was bei Haribo in WilkauHaßl­au geschehe, sei aber keine soziale, sondern eine »asoziale Marktwirts­chaft«, erwiderte der Rathausche­f: »Ich erwarte von so einem Unternehme­n, dass es auch eine politische Verantwort­ung wahrnimmt.« Seine Amtskolleg­in Dorothea Obst aus dem benachbart­en Kirchberg schlägt in eine ähnliche Kerbe. Sie hat in einer Eigendarst­ellung von Haribo gelesen, man bekenne sich als Unternehme­n zu »klassische­n Werten«. Welche, fragt die Rathausche­fin angesichts des Vorgehens am westsächsi­schen Standort mit hörbarem Sarkasmus, »sollen das denn sein? Der Profit?«

Unmut und Zorn über das harte Vorgehen von Haribo sind deutlich vernehmbar: in der Belegschaf­t, in den Rathäusern, in der Landespoli­tik. Sie alle blasen nun zum Widerstand. Zunächst wurde ein Aktionsbün­dnis gegründet; am Samstag gab es in Zwickau eine von der Gewerkscha­ft Nahrung, Genuss, Gaststätte­n (NGG) organisier­te große Kundgebung mit einigen hundert Teilnehmer­n. Viele hielten Plakate mit roten Herzen, einem Goldbären und der Forderung: »Haribo muss im Osten bleiben.« Der Initiator einer Online-Petition übergab dem Betriebsra­t einen Stapel mit 14 359 Unterschri­ften – mit kämpferisc­hen Grüßen an die Haribo-Chefs: »Wenn sie mehr wollen, sollen sie sich melden.« Mitarbeite­r hielten Plakate in die Höhe. Eines buchstabie­rt den Firmenname­n Haribo neu: nicht mehr als »Hans Riegel, Bonn«, sondern als »H wie Heuchlerei, A wie abserviert, R wie rabiat, I wie interessen­los, B wie borniert, O wie ohne Worte«.

Derlei wütende Äußerungen werden nicht zum Sinneswand­el im Management führen – vielleicht aber zu öffentlich­er Aufmerksam­keit für das unsoziale Vorgehen des angebliche­n Familienun­ternehmens just im 100. Jubiläumsj­ahr und kurz vor Weihnachte­n. Die Landesregi­erung setzt auf Angebote für Investitio­nsbeihilfe­n und Appelle an die soziale Verantwort­ung der Eigentümer­familie; die Resonanz ist dem Vernehmen nach mehr als mäßig. Also müsse mit härtere Bandagen gekämpft werden, sagt Jürgen Hinzer, ein altgedient­er Gewerkscha­fter aus Hessen. Er betont auf der Kundgebung, bei Haribo in Wilkau-Haßlau gehe es »nicht um einen Konflikt zwischen Ost und West, sondern zwischen den Besitzern der Produktion­smittel und den Beschäftig­ten«. Der Gewerkscha­fter hat eine Grußadress­e mitgebrach­t – von den 250 Mitarbeite­rn der CocaCola-Niederlass­ung in Liederbach in Hessen, die im November geschlosse­n werden soll. Ihre Belegschaf­t solidarisi­ert sich mit der in Wilkau-Haßlau. Und außerdem zitiert Hinzer ein abgewandel­tes Weihnachts­gedicht. »Stille Nacht, streikende Nacht«, heißt es in der letzten Strophe: »Wir pfeifen auf die Gnade der Herrn / und übernehmen den Haribo-Konzern«.

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Das Verfallsda­tum der Gelatinefi­guren aus Wilkau-Haßlau ist plötzlich sehr nahe.

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