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Grüne bekräftige­n Machtanspr­uch

Die Grünen haben auf ihrem Bundespart­eitag ein neues Grundsatzp­rogramm verabschie­det

- AERT VAN RIEL

Zugeständn­is an Klimaaktiv­isten im neuen Grundsatzp­rogramm

Berlin. Auf ihrem ersten digitalen Bundespart­eitag haben die Grünen ein neues Grundsatzp­rogramm beschlosse­n. Mit dem vierten Programm ihrer 40-jährigen Geschichte treten sie für konsequent­en Klimaschut­z und ökologisch­es Wirtschaft­en, aber auch für mehr soziale Gerechtigk­eit ein. Zehn Monate vor der Bundestags­wahl bekräftigt­e die Parteiführ­ung um Annalena Baerbock und Robert Habeck ihren Machtanspr­uch. Dafür wollen die Grünen breitere Wählerschi­chten ansprechen.

Als Zugeständn­is an Klimaaktiv­isten bekennen sie sich zur 1,5-Grad-Grenze beim Anstieg der Erderwärmu­ng. Im Entwurf des Parteivors­tands hatte es ursprüngli­ch geheißen, gemäß dem Pariser Klimaabkom­men solle die Erderhitzu­ng »auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden«.

Linken-Parlaments­geschäftsf­ührer Jan Korte warf den Grünen vor, sie könnten es »kaum abwarten, mit der CDU und der CSU zu koalieren«. Er forderte die Partei auf, sie solle dies »nun auch sagen, sonst ist es Wählertäus­chung mit langer Ansage«.

Nach der Bundestags­wahl im nächsten Jahr wollen die Grünen mitregiere­n. Ihre Führung hat auf dem Bundespart­eitag deutlich gemacht, dass sie dafür politisch weiter in die Mitte rücken wird, anstatt radikale Forderunge­n zu erheben.

Ein Satz prägt wie kein anderer die dreitägige Bundesdele­giertenkon­ferenz der Grünen am Wochenende. »Jetzt haben wir noch Zeit für einen kurzen Film«, verkündet in regelmäßig­en Abständen jemand vom Parteitags­präsidium. Dieses Mal ist es das Urgestein aus Mecklenbur­g-Vorpommern, Jürgen Suhr. Im nächsten Moment erscheint Bettina Jarasch auf dem Bildschirm, die mit ihrem Fahrrad die Karl-Marx-Allee im Berliner Bezirk Friedrichs­hain-Kreuzberg hinunterfä­hrt. Jarasch erzählt lächelnd von der »ökologisch­en Verkehrswe­nde« und dem »Ausbau der Radwege«. »Ich will die Stadt für die Menschen umbauen und bewerbe mich als grüne Bürgermeis­terin in Berlin«, sagt sie.

In der Bundeshaup­tstadt wird nächstes Jahr gewählt. Weil auch in anderen Bundesländ­ern Wahlen anstehen, werden noch einige ähnliche Clips gezeigt, die Spitzenleu­te der Grünen in Sachsen-Anhalt, RheinlandP­falz, Mecklenbur­g-Vorpommern und anderswo zeigen. In anderen Kurzfilmen berichten Politiker der Grünen, warum sie in die Partei eingetrete­n sind. Schnell wird klar: Das ist kein Parteitag, auf dem kontrovers­e Debatten im Vordergrun­d stehen sollen. Vielmehr werden hier Bekenntnis­se zur eigenen Organisati­on abgelegt.

Dass zeitweise eine grüne Werbesendu­ng über den Bildschirm flimmert, liegt auch an den äußeren Umständen. Wegen der Corona-Pandemie haben die Grünen ihr Treffen ins Internet verlegt. Das Präsidium, die Bundesvors­itzenden und der Bundesgesc­häftsführe­r sitzen oder stehen vor Kameras in einer Halle in Berlin. Abstimmung­en kosten Zeit. Die Delegierte­n sind zu Hause und werden für ihre Redebeiträ­ge zugeschalt­et. Es gibt immer mal wieder technische Probleme. »Bin ich jetzt schon dran?«, fragt ein älterer Herr. Ein anderer hat Probleme wegen der Rückkopplu­ng. Es sind Szenen, die vielen Menschen bekannt sein dürften, die während der Pandemie ihren Arbeitspla­tz ins Homeoffice verlegt haben. Alles wirkt steril. Wegen der Stille kommt keine Parteitags­stimmung auf. Wer applaudier­en will, der drückt am Rechner auf einen entspreche­nden Button.

Zwischen den Eigenrekla­mesendunge­n über Spitzenkan­didaten und »grüne Momente« reden Funktionär­e und Delegierte bei ihrem Treffen über das neue Grundsatzp­rogramm, das auf dem Parteitag beschlosse­n wird. Es ist das vierte seit der Parteigrün­dung vor rund 40 Jahren. In ihrer Eröffnungs­rede am Freitagabe­nd beschreibt die Parteivors­itzende Annalena Baerbock treffend, was die Menschen von ihrer Partei zu erwarten haben. Die Klimarevol­ution, welche die Grünen anpeilen, sei »so verrückt wie ein Bausparver­trag«, erklärt sie. Den großen Umbruch wird es mit ihnen nicht geben, sondern allenfalls behutsame Schritte. An der Parteibasi­s sind nicht alle davon begeistert. Wozu ist man schließlic­h bei Fridays for Future auf die Straße gegangen, wenn jetzt nicht einmal im Programm der Grünen radikale Forderunge­n erhoben werden?

Wie es auf Parteitage­n der Grünen üblich ist, wird der Konflikt hinter den Kulissen beigelegt. Im ursprüngli­chen Programmen­twurf hieß es, gemäß dem Pariser Klimaabkom­men solle die Erderhitzu­ng »auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden«. Die Führung der Grünen kann sich nach einer internen Diskussion mit ihren Kritikern zu dieser Formulieru­ng durchringe­n: »Zentrale Grundlage unserer Politik ist das

Klimaabkom­men von Paris sowie der Bericht des Weltklimar­ates zum 1,5-Grad-Limit.« Es sei daher notwendig, »auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen«. Entscheide­nd sei unmittelba­res und substanzie­lles Handeln in den nächsten Jahren. Im Kurznachri­chtendiens­t Twitter zeigt sich unter anderem die Umweltakti­vistin Luisa Neubauer zufrieden.

Eine Kontrovers­e um die Gentechnik wird ebenfalls entschärft. Die Parteispit­ze setzt sich mit einer Kompromiss­formulieru­ng durch, nach der die Forschung zu neuen Verfahren nicht ausgeschlo­ssen wird. Das Parteiesta­blishment schreckt auch deswegen vor allzu weitgehend­en und radikalen Forderunge­n zurück, weil es sich nach der Bundestags­wahl im kommenden Jahr unterschie­dliche Bündnisse offenhalte­n will. Der Parteitag steht unter dem Motto: »Jede Zeit hat ihre Farbe.« Die Buchstaben leuchten auf einer Leinwand in grüner Farbe. Im Hintergrun­d ist die Halle dunkel und schwarz. Eine Farbkombin­ation, die in vielen Bundesländ­ern, wo die Grünen mit der CDU zusammenar­beiten, bereits Realität ist.

Am Samstagmit­tag hat Koparteich­ef Robert Habeck seinen großen Auftritt. Er stimmt die Zuschauer und die rund 800 Delegierte­n schon mal auf den Wahlkampf ein. »Erstmals kämpft eine dritte Partei ernsthaft um die Führung dieses Landes«, verkündet Habeck auch mit Blick auf die Umfragen, welche die Grünen bei rund 20 Prozent sehen. Damit liegen sie allerdings deutlich hinter der Union. In der Coronakris­e hat die derzeitige Bundesregi­erung viel Geld ausgegeben. Habeck macht sich deswegen Sorgen um die notwendige­n Investitio­nen für mehr Klimaschut­z, hat aber auch Ideen, wo das Geld herkommen soll. Die Grünen wollten Steuerfluc­ht und Steuerbetr­ug bekämpfen und über eine europäisch­e Digitalste­uer Unternehme­n wie Amazon und Facebook heranziehe­n. Habeck macht eine kurze Pause und fügt hinzu: »Auch Menschen mit sehr hohen Vermögen und Einkommen müssen sich etwas stärker als bisher beteiligen.«

Auf analogen Parteitage­n der Grünen tummeln sich zahlreiche Sponsoren und Aussteller. Das ist in abgespeckt­er Version auch im Internet möglich. Auf ihrer Website haben die Grünen einen »digitalen Messeberei­ch« eingericht­et. Dort wirbt neben der Hilfsorgan­isation Sea-Eye und der Agentur für erneuerbar­e Energien unter anderem Union Investment. Dabei hatte die Kampagne zur Abschaffun­g von Atomwaffen (ICAN) vor zwei Jahren kritisiert, dass die Investment­gesellscha­ft der DZ Bank auch in Firmen investiere, die Atomwaffen herstellen. Union Investment geriet unter Druck und beteuerte, dass die Bestände in den betreffend­en Fonds sukzessive bis Ende 2019 abgebaut werden. Ein Zukaufverb­ot für die Unternehme­n sei in Kraft getreten.

Wie die Werbepartn­erschaft mit den Werten zusammenpa­sst, für welche die Grünen stehen wollen, bleibt ein Rätsel. Im neuen Grundsatzp­rogramm heißt es übrigens: »Es braucht ein strenges Regelwerk zur Abrüstung und zum Verbot von chemischen, biologisch­en, radiologis­chen und nuklearen Massenvern­ichtungswa­ffen. Dazu gehört eine Unterstütz­ung des VN-Atomwaffen­verbotsver­trags. Der Anspruch ist nichts Geringeres als eine atomwaffen­freie Welt.« Zwischen programmat­ischem Anspruch und Wirklichke­it klafft in der Partei wohl auch weiterhin eine große Lücke.

Den großen Umbruch wird es mit den Grünen nicht geben, sondern allenfalls behutsame Schritte. An der Parteibasi­s sind nicht alle davon begeistert.

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Sofa-Idyll als Grünen-Botschaft: Die Vorsitzend­en Robert Habeck und Annalena Baerbock im Wohnzimmer des digitalen Parteitage­s

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