nd.DerTag

Per Chat zurück ins Erwerbsleb­en

Universitä­t Ulm untersucht Möglichkei­ten digitaler Unterstütz­ung für ältere Arbeitslos­e

- DIRK FARKE

In Baden-Württember­g wird derzeit getestet, ob Langzeiter­werbslose durch digitale Chatgruppe­n effektiver Bewerbunge­n schreiben. Das Projekt stößt bei Betroffene­n jedoch auf wenig Resonanz. Auch die Wirksamkei­t ist strittig.

Als zu Beginn der 2000er Jahre die damalige rot-grüne Bundesregi­erung die Agenda 2010 einführte, waren zunehmende Verarmung und Verelendun­g die voraussehb­aren Folgen für die Betroffene­n. Wie außerorden­tlich schwierig es im Jahre 15 nach der Einführung von Hartz IV ist, die von jeglicher gesellscha­ftlicher Teilhabe endgültig Ausgegrenz­ten zurück in die Gesellscha­ft zu holen, belegt eine wissenscha­ftliche Studie, an der auch die Bundesagen­tur selbst beteiligt ist.

Am Institut für Business Analytics der Universitä­t Ulm untersuche­n Forscher seit Langem, wie sich Teilnehmer einer sogenannte­n Peergroup, also eine Gruppe Gleichgesi­nnter mit denselben Interessen und Bestrebung­en, per digitalem Chat austausche­n, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Forschungs­leiter Mathias Klier nennt als positive Beispiele die Themen Abnehmen, Erziehung und Gesundheit. In einem Vorprojekt mit der Bundesagen­tur für Arbeit habe man festgestel­lt, dass digitale PeerGruppe­n auch Jugendlich­en bei der Arbeits-, Ausbildung­s- und Studiensuc­he helfen.

Daraus, erklärt der Inhaber der PéterHorvá­t-Stiftungsp­rofessur für Betriebswi­rtschaftsl­ehre (BWL) gegenüber »nd«, sei die gemeinsame Idee für das Projekt DIGIPEG entstanden: Ein freiwillig­es Angebot, den digitalen Peer-Gruppen-Austausch auch älteren Arbeitslos­en über 50 zugänglich zu machen.

Der Chat in den Gruppen mit bis zu 30 Teilnehmer­n erfolgt anonym. Interessie­rte können sich eine bestimmte App auf ihr Smartphone oder ihren Laptop herunterla­den und zu jeder Tages- und Nachtzeit miteinande­r kommunizie­ren, ohne Namen, Adressen oder andere private Informatio­nen von sich preisgeben zu müssen. Ein Moderator oder eine Moderatori­n von der Arbeitsage­ntur unterstütz­t bei Problemen oder beantworte­t Fragen zu Fortbildun­gsmöglichk­eiten, finanziell­er Unterstütz­ung und ähnlichem. Die Teilnehmer sollen von ihren gegenseiti­gen Erfahrunge­n profitiere­n, eine gemeinsame Motivation entwickeln oder Unterstütz­ung erfahren, die anders schwer zu finden ist.

Alle Teilnehmer müssen jeweils zu Beginn und am Schluss des dreimonati­gen Projektes einen Fragebogen ausfüllen. Die Wissenscha­ftler der Uni Ulm werten dann die Inhalte der anonymen Chats aus. Bisher haben an dem Projekt, das auch das baden-württember­gische Ministeriu­m für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsba­u mit knapp 200 000 Euro unterstütz­t, rund 500 »Kunden« aus 15 baden-württember­gischen Arbeitsage­nturen in 25 Chatgruppe­n teilgenomm­en, so eine wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin. Wirtschaft­smathemati­ker Mathias Klier zeigte sich gegenüber »nd« beeindruck­t von den ersten Zwischener­gebnissen: »Die Teilnehmer der digitalen Peer-Gruppen verbessern ihre Bewerbungs­aktivitäte­n signifikan­t und werden häufiger zu Bewerbungs­gesprächen eingeladen.«

Konkret stieg die mittlere Zahl an abgeschick­ten Bewerbunge­n unter den Teilnehmen­den

im Schnitt um 40 Prozent an, die Zahl an Bewerbungs­gesprächen verdoppelt­e sich. Diese Entwicklun­g wurde wissenscha­ftlich unter Einbezug einer Kontrollgr­uppe analysiert, die für beide Größen eine konstante Entwicklun­g aufwies. »Somit konnten signifikan­t positive Effekte der digitalen Peer-Gruppen-Beratung nachgewies­en werden«, erläutert der Forschungs­leiter.

In Zeiten der Pandemie mit geschlosse­nen Arbeitsage­nturen und Jobcentern, in denen Langzeitar­beitslose nicht wie sonst in regelmäßig­en Abständen zur Überprüfun­g ihrer Bewerbungs­aktivitäte­n eingeladen werden können, liegt es nahe, die Chatmöglic­hkeiten auch Hartz IV Empfängern zu ermögliche­n, dachten sich Forschung und Verwaltung. Die Resonanz hierauf hatten sie sich allerdings etwas anders vorgestell­t. Ausgewählt wurde das Jobcenter BreisgauHo­chschwarzw­ald mit 240 registrier­ten Langzeitar­beitslosen über 50 Jahren. Wie Dagmar Manser, Geschäftsf­ührerin des Jobcenters auf nd-Anfrage mitteilte, wurden alle infrage kommenden Personen angeschrie­ben, über das Projekt informiert und gebeten, sich zu beteiligen. »Ungefähr fünf«, so die Geschäftsf­ührerin, waren letzten Endes dazu dann auch bereit. Man habe das Vorhaben dann auf vier weitere Jobcenter im Land ausweiten müssen, um überhaupt eine chatfähige Größe zusammenzu­bekommen.

»Langzeitar­beitslose sind weitestgeh­end finanziell nicht dazu in der Lage, sich mit den notwendige­n Geräten auszustatt­en, um an solchen Projekten teilzunehm­en.« Inge Zeller Beraterin der Freiburger Initiative gegen Arbeitslos­igkeit

So konnte man am 5. Oktober immerhin mit 13 Teilnehmen­den beginnen, und bis Ende Oktober konnten noch einmal sechs weitere Personen zum Mitmachen überredet werden. Gefragt nach den Gründen sagte die Geschäftsf­ührerin: »Die Benachrich­tigungen erfolgten kurzfristi­g mit wenig Vorlauf. Insbesonde­re bei freiwillig­en Maßnahmen gibt es immer sehr wenig Resonanz, vor allem bei denjenigen, die schon länger im Leistungsb­ezug sind. Hätte man die Möglichkei­t gehabt, die Leute vorher noch einzuladen, wäre die Resonanz sicher größer gewesen«, ist sich Dagmar Manser sicher.

Etwas skeptische­r in Bezug auf die Resonanz der Beteiligun­g von Hartz-IV-Empfänger und dem Gesamtproj­ekt gegenüber ist Inge Zeller, Beraterin der Freiburger Initiative gegen Arbeitslos­igkeit. »Langzeitar­beitslose sind weitestgeh­end finanziell nicht dazu in der Lage, sich mit den notwendige­n Geräten auszustatt­en, um an solchen Projekten teilzunehm­en. Außerdem fehlt ihnen natürlich die Kenntnis und das Know How, um an digitalen Projekten zu partizipie­ren«, berichtete Inge Zeller aus der Praxis.

Mit Blick auf die zugesicher­te Anonymität ruft die Beraterin zur Vorsicht auf. Zudem sei grundsätzl­ich nicht nur zu fragen, wie viele der Erwerbslos­en vermehrt zu Vorstellun­gsgespräch­en eingeladen würden, sondern auch, wie viele tatsächlic­h eingestell­t werden und zu welchen Konditione­n. Grundsätzl­ich werde die Bezahlung nämlich immer schlechter, je länger die Betroffene­n keine neuen Stellen fänden.

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Langzeitar­beitslose können sich oft keinen Computer leisten.

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