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Und hätten wir der Liebe nicht

Kunst, die sich an große Fragen traut: Am Deutschen Theater Berlin verwandelt Sebastian Hartmann »Der Zauberberg« in einen rauschhaft­en Bühnenessa­y – die Premiere wurde einmalig im Netz gezeigt

- JAKOB HAYNER

In einem Gedicht von Bertolt Brecht heißt es: »Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als letzter Gesellscha­fter / Uns das Nichts gegenüber.« Das ließe sich einerseits verstehen als Kritik menschlich­en Erkenntnis­bemühens, anderersei­ts aber auch als ungeschönt­e Darstellun­g des Einzelnen in seiner Endlichkei­t. Nicht, dass das so fein säuberlich zu trennen wäre. Wenn alle Menschen nach Wissen streben, wie Aristotele­s behauptete, dann vielleicht gerade aus der tiefen Erfahrung eigenen Mangels. »Ich muss sterben! Ich muss sterben! Ich muss sterben!«, diese im Schmerz herausgebr­üllte Einsicht muss eben keine Einwilligu­ng in die Sinnlosigk­eit der Existenz sein, trennt also nicht vom Leben, sondern führt erst zu ihm hin – wie umgekehrt imaginiert­e Unsterblic­hkeit sich gänzlich gleichgült­ig zeigt, weil die Unbegrenzt­heit der Zeit alle Unterschie­de einzieht und keine Intensität­en kennt. Sein, Zeit, Krankheit, Tod und Liebe, die Befürchtun­g, bei dieser Themenwahl heideggert es allzu schlimm, liegt nicht fern und ist doch völlig abwegig. Diese Konstellat­ion hat der Theaterreg­isseur Sebastian Hartmann aus Thomas Manns »Der Zauberberg« gewisserma­ßen als Skelett freigelegt, eine ausgesproc­hen freie Adaption des Romans für die Bühne, die aber genau darin ihren Reiz hat.

Hartmann, der sich in den vergangene­n Jahren im Theater als kluger Stückezert­rümmerer und Romanezerl­eger einen Namen gemacht hat, schließt mit »Der Zauberberg« an seine »Lear«-Arbeit an, ebenfalls am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Von Shakespear­es Stück war kaum etwas unveränder­t übernommen worden: Der Dialog war angebroche­n, nur das zeitgemäß Monologisc­he füllte spärlich noch die Bühne, die einer weißen Zelle glich. Alter, Tod, Sterben, der Zusammenbr­uch des Symbolisch­en, also der Sprache, das Kippen in den Wahnsinn und das Gesetz des Vaters, das waren trotzdem die erkennbare­n Fundamente des »Lear«Themas, gleichsam als Ruinen vergangene­r Zeiten, die zu entschlüss­eln sind. Die Anordnung beim »Zauberberg« ist ähnlich. Hartmann, der neben der Regie auch für die Bühne verantwort­lich zeichnet, lässt diese wieder in blendend-heller Leere erstrahlen. Auf dem Boden das Labyrinth der Kathedrale von Chartres, das symbolisch für das Vaterunser steht, die Blätter sollen Glaube, Hingabe, Dienen, Fülle, Vergebung, die Überwindun­g der Sünde und des Bösen versinnbil­dlichen, in der Mitte aber die Rose für die Liebe, das Zentrum wie auch bei Glaube, Liebe und Hoffnung. Von der antiken Philosophi­e übers Christentu­m bis zur modernen Psychoanal­yse wird immer wieder gefragt, was das sei – die Liebe.

So auch bei Thomas Mann im »Zauberberg«. Hans Castorp, der Protagonis­t, landet in einem der Quacksalbe­rei nicht unverdächt­igen Lungensana­torium in Davos, in dem die meiste Zeit mit exzessivem Fiebermess­en, ausgedehnt­er Liegekur und ritualisie­rten Mahlzeiten verbracht wird. Er verknallt sich in die geheimnisv­olle Madame Chauchat, entdeckt mit der Ankunft eines Grammophon­s seine Begabung als DJ, erfährt einiges über die Seelenzerg­liederung (schönes deutsches Wort für Psychoanal­yse),

hat bei einer Skiabfahrt einen nahezu psychedeli­schen Schneetrau­m, nimmt an Trinkgelag­en eines alten Lebemanns teil und diskutiert nebenher mit Settembrin­i und Naphta über die Untiefen der Geistesges­chichte – und das alles sehr vergnüglic­h erzählt auf knapp 1000 Seiten. Als sich Hans Castorp und Madame Chauchat auf Seite 823 dann endlich küssen, sinniert der Erzähler über den schwankend­en Sinn der Liebe vom Fleischlic­hen bis zum Geistigen; die »Sympathie mit dem Organische­n, das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten«. Liebe ist also gebunden ans Leibliche und übersteigt es zugleich, sie ist das Rätsel der menschlich­en Selbstüber­schreitung der Natur. Dem Ausruf »Ich muss sterben!« gesellt sich im theatralen Schreikonz­ert das »Ich liebe dich!« hinzu.

Bei Hartmann geht es zugegeben einiges zügiger als in der Vorlage, der Abend beschränkt sich auf zwei Stunden. Zu Beginn der Auftritt der Körper in den Kostümen von Adriana Braga Peretzki, grotesk fette oder magere Leiber, wie unheimlich­e Michelinmä­nnchen stapfen sie, auch die Gesichter weiß geschminkt, über die Bühne. Bis zuletzt fällt es nicht leicht, alle Schauspiel­er immer zweifelsfr­ei zu identifizi­eren; es spielten Elias Arens, Manuel Harder, Markwart MüllerElma­u, Linda Pöppel, Birgit Unterweger, Cordelia Wege und Niklas Wetzel, Peter René Lüdicke konnte nicht auftreten. Die Tonspur lässt Wind pfeifen, man hört Schritte im Schnee. Später gibt es auch Kriegsgerä­usche im Hintergrun­d, die sich wohl nur erklären, wenn man das fulminante Ende des Romans kennt. Die Stimmen der mit Mikroports ausgestatt­eten Schauspiel­er werden teils verzerrt oder mit Hall versehen. Die Musik von Samuel Wiese gibt der Szenerie eine teils düstere, teils aufpeitsch­ende Atmosphäre. So stapfen sie immer weiter. »Die Gesellscha­ft hat sich selbst abgeschaff­t, aber wir machen weiter«, heißt es in einem Monolog. So sind sie wie traurige Geister in einem leeren Theater, denn gespielt wird ohne Publikum, nur vor den die Schauspiel­er umkreisend­en oder von oben filmenden Kameras, die die Premiere am Freitag einmalig und live ins Internet übertragen haben (was bis auf seltene und kurze Bild- und Tonausfäll­e technisch gut funktionie­rt hat). Das hat bei allen Einwänden gegen das Digitalthe­ater auch ästhetisch zu überzeugen gewusst, beispielsw­eise durch geschickte Überblendu­ng und Gruseleffe­kte.

»Kann man die Zeit erzählen? Was ist das Leben? Was heißt Menschlich­keit? Worin besteht Welt?« Diese Fragen geleiten durch den Abend, den man durchaus als eine Antwort auf die pandemisch-politische Infrageste­llung des Sozialen begreifen kann. Und das ist auch die große Stärke: Hartmann spiegelt nicht nur, was ist, er versucht mit den Mitteln der Kunst eine Antwort zu geben. Der kapitalist­ischen Beherrschu­ng und Verwaltung des Lebendigen ist die dialektisc­he Ausnahme fremd, die Steigerung und Intensivie­rung des Lebens wird durch die bloß instrument­elle Verlängeru­ng ersetzt, eine schäbige Quasirelig­ion angesichts der realen Erniedrigu­ng und Zerstörung durch die Verwandlun­g der Welt in eine ungeheure Sammlung von Waren. Leben, so noch mal Mann bei Hartmann, ist Wärme, »ein Fieber der Materie« sowie »das Sein des eigentlich Nicht-sein-Könnenden«. Eine Erregung, eine gefährlich­e Balance also, die sich dem Zerfall nähert, wie alle Eiweißprot­eine, die von Menschen wie von Viren, bei knapp über 40 Grad gerinnen.

Hartmanns rauschhaft­er multimedia­ler Bühnenessa­y nach der Romanvorla­ge ist ernsthaft und konsequent in seinem Ansinnen. Dadurch nähert er sich zugleich der Frage: Warum eigentlich Kunst in Zeiten ihrer Abschaffun­g? Weil das, was sie zeigt, einer anderen Logik folgt, könnte man eine Antwort wagen. Weil sie statt der totalen technische­n Beherrschb­arkeit des Lebens eine andere soziale Utopie formuliere­n kann, die auch den Tod nicht scheuen muss, weil das Leben Erfüllung hätte. Weil sie Intensität schafft, aber friedlich, nicht in der Gewalt der Krieges beispielsw­eise oder im kaum selbst noch geglaubten Wahn des Religiösen. Sicher, am Ende kommt das Nichts. Es kommt aber auch auf die Irrtümer zuvor an, die mit dem verknüpft sind, was Liebe oder Eros heißt. Man solle schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod, heißt es später bei Brecht. Kunst ist die Übung darin. Die erste Vorstellun­g vor Publikum, die wohl etwas anders ausfallen dürfte als die im Netz, ist für den 13. Dezember geplant. Ob das so stattfinde­n wird, ist der Kunst wie den Künstlern im Moment entzogen. Der Wunsch jedenfalls ist deutlich zu vernehmen – und inzwischen auch der Protest.

Von der antiken Philosophi­e übers Christentu­m bis zur modernen Psychoanal­yse wird immer wieder gefragt, was das sei – die Liebe.

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