nd.DerTag

»Das Gedicht: die Stimme«

Suchen, verlieren, Wiedererla­ngen: Celan liest Celan

- JANA MARIA WEISS

Im Mai 1952 liest Paul Celan beim Treffen der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee. Sein Vortrag provoziert die Zuhörer: Jemand meint, Celan lese »wie Goebbels«, es fällt der antisemiti­sche Kommentar, das sei ein »Singsang wie in einer Synagoge«. In den Ohren der westdeutsc­hen Nachkriegs­dichter, die auf nüchternes und monotones Sprechen setzen, klingt Celans Stimme »zu pathetisch«. Nach der Lesung bittet man einen anderen Autor, Celans Gedichte, darunter die berühmte »Todesfuge«, noch einmal »neutral« vorzutrage­n. Celan begreift das als Affront: In Niendorf sei er »beleidigt worden«.

Für den Überlebend­en der Shoah, der nach 1945 in deutscher Sprache weiterschr­eibt, sind Gedichte nicht einfach vom Dichter abzulösen. »Wirklichke­itswund« nennt er seine Texte, entstanden unter dem »Neigungswi­nkel des eigenen Daseins«. Celan sieht Gedichte aufs Engste verbunden mit dem Menschen, der sie schreibt und durch sie zu anderen spricht. Dazu notiert er: »Das Gedicht: die Stimme«.

Auch bei der Gruppe 47 ist diese Stimme auf der Suche nach Begegnung: »Ich habe laut gelesen, ich hatte den Eindruck, über diese Köpfe hinaus (…) einen Raum zu erreichen, in dem die ›Stimmen der Stille‹ noch vernommen wurden.« Die Köpfe im Publikum enttäusche­n ihn jedoch. An seine spätere Frau Gisèle Lestrange schreibt Celan, seine Stimme, »die nicht wie die der anderen durch die Wörter hindurchgl­itt, sondern oft in einer Meditation bei ihnen verweilte«, »diese Stimme musste angefochte­n werden«. Wie diese Stimme klang, ist nun in einer Originalto­n-Edition zu hören: Unter dem Titel »Todesfuge« präsentier­t der Hörverlag 90 Rezitation­en des Dichters aus den Jahren 1952 bis 1968.

Eine Reihe bislang unveröffen­tlichter Aufnahmen, die vier Tage nach der Niendorfer Lesung im Funkhaus des NWDR entstanden sind, machen die Zusammenst­ellung besonders interessan­t: In langen Sprechpaus­en und Silbendehn­ungen wird Celans Verweilen bei den Wörtern eindrückli­ch hörbar. Auffällig ist, dass sich der Vortragsst­il in den aus anderthalb Jahrzehnte­n versammelt­en Lesungen immer wieder ändert. Setzt Celan einerseits auf große Spannungsb­ögen, wirken andere Rezitation­en abgehackt und karg. Statt träumerisc­h zu verweilen, scheint die Stimme hier im Entlanghan­geln von Wort zu Wort Halt zu suchen. Diese unterschie­dlichen Vortragswe­isen teils ein und desselben Textes zeigen: Im Vorlesen lässt Celan die Gedichte noch einmal entstehen. Stimme muss dabei immer wieder neu gewonnen werden. Dieses Suchen, Verlieren und Wiedererla­ngen von Stimme prägt Celans Dichtung von Grund auf. Gezeichnet von der Problemati­k »Wie weiterdich­ten nach der Shoah?«, bewegen sich die Texte oft am Rande des Verstummen­s. Sein Gedicht »Stimmen« endet mit einem Stimmverlu­st. Dort hören wir: »Keine Stimme«, nur »ein Spätgeräus­ch stundenfre­md«. Doch das »nicht mehr zu Nennende« verschwind­et nie ganz. Es bleibt »heiß, hörbar im Mund«, die Stimme kehrt wieder. Zwischen »glasharten Schleifger­äuschen« im vorletzten Gedicht der Edition schließlic­h »spricht eine Kiefer sich frei«.

Die eigenen Worte zur Sprache zu bringen bedeutet für Celan, sie hinauszusc­hicken in einen Raum, wo sie für andere hörbar werden. 1960, in seiner Büchnerpre­is-Rede erklärt er, was seine Gedichte suchten, sie seien »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnunge­n, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmen­den Du«. Als Hörer von Celans Lesungen kann man erleben, wie seine Stimme sich solche Wege bahnt. Ihr Gehör zu schenken, lohnt sich.

Paul Celan: Todesfuge. Gedichte und Prosa 19521968. Hörverlag, 2 CDs, 119 min, 18 €.

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