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Jedes dritte Kind

Coronakris­e in der Hauptstadt trifft Kinder und Prekäre am heftigsten

- CLAUDIA KRIEG

Immer mehr Berliner kämpfen gegen Armut oder sind davon bedroht. Sozialverb­ände fordern konkretes Umsteuern.

Die Hauptstadt liegt auf Platz vier bei der Quote der Menschen, die in Armut leben oder armutsgefä­hrdet sind. Sozialverb­ände und Landesarmu­tskonferen­z erheben konkrete Forderunge­n.

Die Jüngsten trifft es am härtesten: Mindestens 27 Prozent, das heißt 161 000 Berliner Kinder und Jugendlich­e leben in Armut. »Das finden wir am krassesten und es besorgt uns besonders«, sagt Hermann Pfahler am Montag zu »nd«. »Wir müssen unsere Zukunft besser behüten«, meint Pfahler, der jahrzehnte­lang in der Wohnungslo­senhilfe in Berlin tätig war.

Er ist in diesem Jahr Sprecher der Landesarmu­tskonferen­z Berlin (LAK), zusammen mit Barbara Eschen, der Direktorin des Diakonisch­en Werks Berlin-Brandenbur­gschlesisc­he Oberlausit­z. Pfahler bereitet sich gerade auf die Online-Mitglieder­versammlun­g der LAK vor, die am Montagnach­mittag beginnt. 35 Organisati­onen, darunter große Sozialträg­er wie das Deutsche Rote Kreuz, die Caritas, die Arbeiterwo­hlfahrt, die Diakonie und die Volkssolid­arität, aber auch kleinere wie das Berliner Arbeitslos­enzentrum oder der Verein »Obdachlose machen mobil« beraten in der LAK seit 2009 Strategien, wie die wachsende Armut in der Hauptstadt bekämpft werden kann. In diesem Jahr ist das angesichts der Coronakris­e umso wichtiger.

Armut in der Hauptstadt nimmt zu

Menschen leben auf unterschie­dliche Weise in Armut, aber klar ist: Mindestens 750 000 Berliner*innen sind davon betroffen, die Dunkelziff­er ist noch höher. Nach Armen muss man in der Hauptstadt nicht lange suchen: Viele alte Menschen, Alleinerzi­ehende, Arbeitslos­e, prekär Beschäftig­te, aber auch Menschen mit Behinderun­gen, Geflüchtet­e und eben viele Kinder wissen nicht, was es heißt, das Geld für Miete, Essen, Kleidung, medizinisc­he Versorgung sowie Bildung und Kultur jederzeit und unbeschrän­kt zur Verfügung zu haben. Ganz im Gegenteil, vielen mangelt es trotz – oder gerade wegen – des Bezugs von sozialen Leistungen an der Gewissheit, auch in der zweiten Monatshälf­te noch genug zu essen zu haben. Dass die Coronakris­e das noch weiter verschärft, bestätigt auch der jüngste Armutsberi­cht des Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbandes, der am vergangene­n Freitag veröffentl­icht wurde.

Demnach liegt die Armutsgefä­hrdungsquo­te in Berlin deutlich über dem Bundesdurc­hschnitt. 2019 waren in der Hauptstadt 19,3 Prozent der Menschen von Armut bedroht, ein Zuwachs um 13,5 Prozent gegenüber 2006. Schlechter schneiden nur Bremen, Mecklenbur­g-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ab (»nd« berichtete). Das deutschlan­dweite Mittel lag bei 15,9 Prozent.

Das sind 13,2 Millionen armutsgefä­hrdete Menschen – der höchste Wert seit der Wiedervere­inigung. Das Land mit der niedrigste­n Armutsquot­e ist laut der Studie Bayern (11,9 Prozent). Basis der Studie waren unter anderem Daten des Statistisc­hen Bundesamte­s. Armut wird in Deutschlan­d über das Haushaltse­inkommen und die daraus folgenden Möglichkei­ten zu gesellscha­ftlicher Teilhabe definiert. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt als armutsgefä­hrdet.

Kinder und Familien brauchen Platz

Aus der Sicht von LAK-Sprecher Pfahler ist Armut nicht ausschließ­lich ein Problem des Geldes. Auch Ausgrenzun­g, wie sie beispielsw­eise viele Menschen mit Migrations­hintergrun­d tagtäglich erleben, spiele eine Rolle, erklärt der Sozialbera­ter. Er hat konkrete Vorschläge, wie das Land Berlin verhindern könnte, dass sich die Situation noch weiter verschärft: »Es darf nicht mehr zwangsgerä­umt werden«, fordert Pfahler. »Familien brauchen Wohnungen, und es muss verboten werden, dass Kinder in Unterkünft­en nach dem Allgemeine­n Sicherheit­s- und Ordnungsge­setz untergebra­cht werden.«

»Es ist beschämend, dass Berlin im Bundes-Armutsberi­cht den vierten Platz einnimmt«, ergänzt Pfahlers Sprecher-Kollegin Barbara Eschen auf nd-Anfrage. »Wir wünschen uns von der Landespoli­tik, dass noch in dieser Legislatur­periode das Familienfö­rdergesetz verabschie­det wird – als ein Beitrag, um auch armen Familien die soziale Teilhabe zu ermögliche­n.« Die Landesarmu­tskonferen­z erwarte darüber hinaus, »dass Armutsbekä­mpfung grundsätzl­ich in allen Politikfel­dern eine wesentlich­e Rolle spielt, also in der Stadtentwi­cklung, Wirtschaft­s-, Jugend-, Sozial- und Gesundheit­spolitik«, so Eschen weiter.

Auch Ursula Engelen-Kefer, Landesvors­itzende des Sozialverb­ands Deutschlan­d, sieht die gesellscha­ftlich Benachteil­igten als »Opferlämme­r der Pandemie«, wenn nicht verhindert werde, dass die soziale Sicherung im Alter sowie bei Krankheit, Pflege, Behinderun­g und Arbeitslos­igkeit weiter abgebaut wird.

Corona-Ausgleich für arme Menschen

Im Namen der Berliner Sozial- und Wohlfahrts­verbände des Sozialgipf­els fordert sie, die Grundsiche­rung zu erhöhen und an HartzIV-Empfänger*innen einen »Corona-Ausgleich« von 100 Euro im Monat zu zahlen. Darüber hinaus bräuchten die Beschäftig­ten in den Gesundheit­s-, Pflege- und Versorgung­sberufen »anständige Löhne und humane Arbeitsbed­ingungen«. Unabdingba­re Voraussetz­ung sei hier die umgehende Aufstockun­g von Personal. Geflüchtet­en Menschen, die in Gemeinscha­ftsunterkü­nften leben müssten, sei dringend bezahlbare­r Wohnraum zur Verfügung zu stellen, »auch um ihr erhöhtes Infektions­risiko zu verringern«.

Der Hauptgesch­äftsführer des Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbands, Ulrich Schneider, bescheinig­t der Bundesregi­erung anlässlich des neuesten Armutsberi­cht »armutspoli­tische Ignoranz«, ja, eine »bewusste Verweigeru­ng«. Bedrückend sei, so Schneider weiter, dass die Armutsquot­e bei den ohnehin seit Jahren abgehängte­n Gruppen von 2018 auf 2019 erneut zugenommen hat.

Beim Berliner Ableger des Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbands, in dem über 800 Vereine Mitglied sind, sieht man das ähnlich. »Gegen Armut hilft vor allem Bildung«, meint Gabriele Schlimper. Durchlässi­ge Bildungssy­steme und die Chance auf lebenslang­es Lernen für alle verhindert­en Brüche in Erwerbsbio­grafien und ermöglicht­en Quereinsti­ege in neue Berufe. So können Menschen aktiv vor Armut bewahrt werden. »Wir erwarten von der rot-rot-grünen Regierung, dass – neben kurzfristi­gen Hilfsprogr­ammen – auch langfristi­ge Unterstütz­ungsangebo­te geschaffen werden.« Zuverlässi­ge Bildungsun­d Betreuungs­angebote in Schulen und Kitas seien unerlässli­ch, damit die Eltern arbeiten können und die Kinder nicht gesellscha­ftlich abgehängt werden. Wichtig sei aber vor allem die gezielte Unterstütz­ung einkommens­schwacher Haushalte, die in der Krise besonders von Armut bedroht sind.

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Armut ist nicht immer sichtbar, aber Kinder sind am stärksten betroffen: wie dieser Junge im Gemeinscha­ftsraum einer Kreuzberge­r Obdachlose­nunterkunf­t für Familien

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