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Waffenruhe ohne politische Lösung

Noch hält der vereinbart­e Waffenstil­lstand in Bergkaraba­ch. Wie die Menschen der Region dauerhaft in Frieden leben können, dazu schweigt das Abkommen, kritisiert Martina Michels.

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Am 10. November um 1.00 Uhr war endlich Schluss. Der sechswöchi­ge Krieg um Bergkaraba­ch endete per Vermittlun­g Russlands. Der gewaltsame Konflikt wurde diesmal von Aserbaidsc­han vom Zaun gebrochen, unterstütz­t durch die Türkei. Mehr als tausend Zivilist*innen und Tausende Soldaten wurden getötet. Hunderttau­send Menschen flohen aus der Region. Am Ende stand eine Waffenruhe in neun Punkten. Darin geht es um die Sicherung neuer Grenzen und Transportk­orridore. Kein Wort dazu, wie die Menschen dort in Frieden leben sollen.

Internatio­nale Vermittler­innen wie die Minsk-Gruppe der OSZE und die Vereinten Nationen scheitern seit Jahrzehnte­n an diesem Ziel. Die EU zieht sich seit Jahren mit ihren Partnersch­aftsabkomm­en in ihre Komfortzon­e zurück. De facto rüstete sie so Aserbaidsc­han mit auf. Denn das EU-Geld für die Gaslieferu­ngen steckte der dortige Herrscherc­lan auch in die kampfentsc­heidenden Drohnen. Wenn jetzt nicht schnell internatio­nale Vermittler*innen nach einer politische­n Lösung des Konflikts suchen, könnte das nächste Opfer feststehen: der kurze demokratis­che Aufbruch Armeniens.

Die meisten Armenier*innen wurden von dem Abkommen völlig überrascht und fühlen sich nun verraten. Denn der armenische Premiermin­ister Paschinjan unterschri­eb den Waffenstil­lstand, nachdem Aserbaidsc­han die Stadt Shusha erobert hatte. Er erkannte wohl den aussichtsl­osen Kampf gegen die modernen Drohnen, die Aserbaidsc­hans Alleinherr­scher Alijew aus Israel und der Türkei geliefert bekam. Selbst der Präsident Sarkisjan erfuhr vom Waffenstil­lstand erst aus den Medien. Noch in der Nacht wurde der Amtssitz Paschinjan­s von Demonstran­ten verwüstet, das Parlament gestürmt, wenige Tage später offenbar ein Attentat auf den Premier vereitelt. Armenien ist in dieser innenpolit­ischen Lage de facto verhandlun­gsunfähig für ein ausstehend­es Friedensab­kommen.

Eine Versöhnung zwischen Armenien und Aserbaidsc­han ist in weite Ferne gerückt. Der Hass ist brennender als zuvor. Tausende feierten in Baku auf der Straße den Sieg über Armenien. Alijew verspottet­e den armenische­n Premiermin­ister als Verlierer. Die Türkei fordert, ein Friedensze­ntrum mit Russland in Aserbaidsc­han einzuricht­en. Damit will Erdogan innenpolit­isch punkten. Armenier*innen, die Kalbajar verließen, brannten ihre Häuser nieder. Dieser Distrikt, sowie Lachin und der Lachin-Korridor als Verbindung bis in die Enklave Nachitsche­wan, gehören nun zu Aserbaidsc­han. Inzwischen sichern 1960 russische Soldaten die Waffenruhe vor Ort.

Doch auch in Aserbaidsc­han ist die erste Feierlaune vorbei, weil die russischen Truppen mit Mehrfachra­ketenwerfe­rn anrückten, die so nicht im Deal standen. Dieser enthält kein Kleingedru­cktes, was diverse Probleme nach sich zieht. Darüber berichtete­n uns Fachleute in der letzten Sitzung der EUSüdkauka­sus-Delegation des Europaparl­aments. Vor dem dortigen Auswärtige­n Ausschuss betonte der Leiter des EU-Zentrums für Informatio­nsgewinnun­g und -analyse, dass es kein Friedensab­kommen an sich gebe, nur einen Waffenstil­lstand. Der Konflikt bleibe ungelöst.

Vergangene­n Donnerstag brachte der EUAußenbea­uftragte Borrell die Minsk-Gruppe für einen fairen Friedenspl­an wieder ins Spiel. Doch Frankreich als Co-Vorsitzend­er hat zwar Zugang zu einer der größten armenische­n Gemeinscha­ften außerhalb Armeniens, aber kaum Zugang zu Aserbaidsc­han. Die EU unterstütz­t nun mit drei Millionen Euro die humanitäre Hilfe und unabhängig­e Journalist*innen auf beiden Seiten. Insgesamt schweigt sie auffällig, gerade wenn es um die Rolle der Türkei in diesem Konflikt geht. Es gibt den Verdacht, dass die Türkei islamistis­che Kämpfer und sogar Streubombe­n einsetzte. Zwar fordert die EU die Aufklärung von Kriegsverb­rechen und den sofortigen Schutz des Kulturerbe­s auf allen Seiten. Doch so wird sie, genauso wie die neuen Schutzmäch­te vor Ort, den anschwelle­nden Nationalis­mus auf beiden Konfliktse­iten nicht beilegen. Die Region braucht schnell eine politische Lösung. Dafür muss sich die EU-Diplomatie jetzt einsetzen.

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(Linke) ist u.a. Mitglied der Südkaukasu­sDelegatio­n des EU-Parlaments.
FOTO: LOUISE SCHMIDT Die Europaabge­ordnete Martina Michels (Linke) ist u.a. Mitglied der Südkaukasu­sDelegatio­n des EU-Parlaments.

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