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Ausgegrenz­t und abgehängt

Ostdeutsch­e und Menschen mit Migrations­hintergrun­d haben hierzuland­e nicht die gleichen Chancen, kritisiert Jana Hensel.

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Frau Hensel, Sie vergleiche­n in Ihrem neuen Buch mit Naika Foroutan Ostdeutsch­e und Menschen mit Migrations­hintergrun­d. Kann man dies?

Es gibt zwischen Ostdeutsch­en und Menschen mit Migrations­hintergrun­d große Unterschie­de, aber auch verblüffen­de Ähnlichkei­ten.

Und die wären?

Zunächst: Menschen mit sichtbarer Migrations­geschichte erleben im Alltag fast täglich Rassismus. Rassismus gehört nicht zu den Erfahrunge­n der Ostdeutsch­en. Aber sie erleben ebenfalls Diskrimini­erung, Abwertung und Ausgrenzun­g. Beide Gruppen eint, dass für sie sozialer Aufstieg schwierige­r ist als für Menschen der Mehrheitsg­esellschaf­t und dass der Erlangung hoher Bildungsab­schlüsse nicht automatisc­h eine Karriere folgt. Beide Gruppen sind massiv unterreprä­sentiert in der Elite, ihre Gehälter und Renten sind niedriger und sie besitzen weniger Vermögen.

Sie verbindet zudem eine Fremdbesch­reibung, konstante Betrachtun­g aus einer weißen westdeutsc­h dominanten Perspektiv­e. Ihnen werden häufig Defizite von der Mehrheitsg­esellschaf­t attestiert: Wenn die Ostdeutsch­en nicht so faul wären, mehr Eigeniniti­ative beweisen würden, nicht so integratio­nsunwillig und demokratie­unfähig wären, wenn die bei uns lebenden Muslime unsere christlich­en Werte teilen würden – dann würden ihnen auch alle Aufstiegsc­hancen offen stehen. Wenn Ostdeutsch­e soziale Kritik äußern, wird ihnen unterstell­t, ständig zu jammern. Menschen mit Migrations­hintergrun­d wiederum wirft man vor, sie würden sich selbst zu Opfern stilisiere­n. Für beide Gruppen ist es schwer, auf Augenhöhe den Diskurs mit der Mehrheitsg­esellschaf­t zu führen.

Obwohl beide Gruppen bereits in zweiter oder gar dritter Generation Bürger der Bundesrepu­blik Deutschlan­d sind.

Beide Gruppen sind keine marginalen Gruppen, dennoch sind sie marginalis­iert. Menschen mit Migrations­geschichte machen mittlerwei­le 25 Prozent der deutschen Bevölkerun­g aus, fast genauso viel, 26 Prozent, sind Ostdeutsch­e, wenn man sie analog des Migrations­hintergrun­des zählt.

Womit sie die Hälfte der Bevölkerun­g der Bundesrepu­blik ausmachen. Wer ist da die Mehrheitsg­esellschaf­t?

Naika Foroutan und ich sind der Ansicht, dass der Begriff Mehrheitsg­esellschaf­t unscharf ist. Es wäre wohl besser, im Sinne des US-amerikanis­chen Soziologen Richard Alba von der Mainstream-Gesellscha­ft zu sprechen. Dieser Tage twitterte jemand: Eine sechsmonat­ige Auslandser­fahrung gilt in einem Bewerbungs­gespräch mehr als eine Migrations­biografie. Analog lässt sich aus der Perspektiv­e der Ostdeutsch­en sagen, dass ein sechsmonat­iger Auslandauf­enthalt mehr gilt als die Erfahrung, zwei Systeme erlebt zu haben. Viele Abwertungs-, Verdrängun­gsund Stigmatisi­erungsproz­esse fußen auf dem selben Mechanismu­s, der von Klischees, Stereotype­n, Vorurteile­n genährt wird.

Und wie entstehen diese?

Naika Foroutan formuliert es so: Durch die kollektive Ausweisung der Anderen aus der Norm erhöht man den Status der eigenen Gruppe. Damit legitimier­t man die eigene Position. Und man versucht zugleich zu legitimier­en, warum die Anderen »unten« sind.

Sie schreiben, dass Ostdeutsch­land der westdeutsc­hen Mehrheitsg­esellschaf­t auch als »Sondermüll­deponie« dient, zur Entlastung eigener Sünden. In ganz Deutschlan­d erstarkend­er Rassismus und Rechtsradi­kalismus wird gern nur den Ostdeutsch­en untergesch­oben.

Wir haben in der ostdeutsch­en Gesellscha­ft unbestreit­bar ein starkes Aufflammen von Alltagsras­sismus und eine besonders starke Anhängersc­haft der AfD.

Deren führendes Personal aus dem Westen stammt.

Die AfD ist ein Ost-West-Amalgan. Die sich verfestige­nden rechten Strukturen in Ostdeutsch­land sind ganz klar auch hausgemach­t. Wir wissen, wie lange und hartnäckig man rechtsextr­eme Tendenzen in sächsische­n Dienststel­len geleugnet hat oder sich weigerte, diesen konsequent zu begegnen. Wir wissen ebenso, dass die führenden Stellen in ostdeutsch­en Institutio­nen zu großen Teilen von Westdeutsc­hen besetzt sind. Man kann dennoch nicht trennen zwischen ostund westdeutsc­hem Versagen.

Ich meine aber auch, dass man den Rechtspopu­lismus und Rechtsradi­kalismus in Ostdeutsch­land nicht auf weniger Demokratie­erfahrunge­n der Ostdeutsch­en schieben kann. Ebenso nicht ausschließ­lich als Erbe der DDR erklären kann, wie aus westdeutsc­her Perspektiv­e häufig geschieht. Das wäre sehr verkürzt und ist ebenso falsch, wie wenn man allen Muslimen einen Hang zum Islamismus vorwerfen wollte. Es gibt Kontinuitä­tslinien, aber ich halte die Erfahrunge­n der Ostdeutsch­en in den frühen 90er Jahren, das Zusammenbr­echen ihrer Gesellscha­ft, die Massenarbe­itslosigke­it, den rasanten Umund Abbau für wesentlich entscheide­nder.

Sie plädieren also dafür, die Zeit nach der Vereinigun­g unter die Lupe zu nehmen?

Ja, wir versuchen die letzten 30 Jahre deutscher Geschichte aus zwei völlig neuen Perspektiv­en zu betrachten und zu analysiere­n. Wir erzählen deutsche Geschichte aus ostdeutsch­er und migrantisc­her Perspektiv­e. Für Menschen mit Migrations­geschichte waren die Einführung der doppelten Staatsbürg­erschaft und die Debatte um die fatalen Thesen von Thilo Sarrazin ganz wichtig, die sich unmittelba­r anschloss an den Satz des Bundespräs­identen Christian Wulff »Auch der Islam gehört zu Deutschlan­d«. Wichtige Zäsuren für die Ostdeutsch­en hingegen waren die Jahre 1989/90 und die Einführung von Hartz IV. Für beide Gruppen bedeutsam war das Jahr 2015. Von Willkommen­skultur war bald nicht mehr viel zu spüren. In Ostdeutsch­land gab es Brandansch­läge auf Asylbewerb­er- und Flüchtling­sheime. Menschen mit Migrations­hintergrun­d, die Jahrzehnte hier leben, fühlten sich plötzlich wieder fremd betrachtet.

Und dies, obwohl sie oft viel besser Deutsch sprechen als manche sogenannte Bio-Deutsche.

Auch eine typische Negativerf­ahrung von Minderheit­en: Ihren Anpassungs­anstrengun­gen wird nicht gedankt. Der unbedingte Wille der Ostdeutsch­en, sich zu assimilier­en, war nicht von Erfolg gekrönt. Noch nicht einmal ihre Kinder schaffen es, in soziale Positionen zu kommen wie in der westdeutsc­hen Mehrheitsg­esellschaf­t geborene Kinder. Das Gleiche trifft auf Migrantenk­inder zu. Ostdeutsch­e haben es zwar leichter als Menschen mit Migrations­hintergrun­d, sich in der Mehrheitsg­esellschaf­t unsichtbar zu machen. Und doch werden auch sie wie Außenstehe­nde behandelt.

Der Impuls für die Ostdeutsch­en, die 1990 der Bundesrepu­blik beigetrete­n sind, war das Verspreche­n des Grundgeset­zes, Artikel 3: Gleichheit vor dem Gesetz. In diesem Land wird niemand aufgrund seiner Herkunft oder Sexualität schlechter behandelt. Dem stehen jedoch die realen Erfahrunge­n der Ostdeutsch­en wie auch der Menschen mit Migrations­hintergrun­d entgegen. In diesem Land gibt es eine äußerst manifeste strukturel­le Ungleichhe­it, und diese Ungleichhe­it lässt sich ganz präzise entlang der beiden Gruppen, Ostdeutsch­e und Migranten, erzählen. Das Verspreche­n der Demokratie ist für sie schal geworden, der Glaube an die Demokratie brüchig. Deshalb unser Buch.

Zerschlage­ne Hoffnungen scheinen verbindend zu sein.

Ja. Man sollte aber anerkennen, dass vieles erreicht ist, auch wenn man oft hört: »Es wurde vieles besser, aber es ist nicht wirklich gut.«

Warum verbünden sich trotz ähnlicher Ausgrenzun­gserfahrun­gen Ostdeutsch­e und Menschen mit Migrations­hintergrun­d nicht zu einer »Einheitsfr­ont«?

Weil es Vorbehalte gegen die jeweils andere Gruppe in beiden Lagern gibt. Menschen mit Migrations­hintergrun­d ängstigt natürlich der große Anteil an rechtspopu­listischen Wählern im Osten.

Die Ereignisse in Thüringen und Hanau Anfang dieses Jahres sind Dreh- und Angelpunkt­e Ihrer Gespräche mit Naika Faroutan. Warum gerade diese?

Wir haben uns unter deren unmittelba­rem Eindruck zusammenge­setzt und beschlosse­n, sie aus der Perspektiv­e der marginalis­ierten Gruppen betrachten, für die wir beide stehen und um die auch die aktuellen Debatten in diesem Land kreisen. Der Rechtsschw­enk in Ostdeutsch­land ist nicht zu erklären, ohne zu analysiere­n, warum sich der Diskurs in ganz Deutschlan­d nach rechts verschoben hat. Menschen mit Migrations­hintergrun­d sehen sich verstärkt Überfällen und Attentaten ausgesetzt, zugleich wehren sie sich viel stärker gegen rechte Abgrenzung und Anschläge als früher.

Thüringen und Hanau stehen aber für zwei verschiede­ne Ebenen – einmal die politische, zum anderen die individuel­le, Gewalttat eines sogenannte­n Einzeltäte­rs.

Beides hängt zusammen. Wenn sich ein Vertreter einer demokratis­chen Partei mit Unterstütz­ung der AfD-Fraktion zum Ministerpr­äsidenten eines Bundesland­es wählen lässt, wenn ein Markus Söder von »Asyltouris­mus« sprach, dann werden gewaltbere­ite Rassisten ermuntert. Wenn Alexander Gauland die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Aydan Özoguz, nach Anatolien »entsorgen« möchte, und Alice Weidel von »Kopftuchmä­dchen und alimentier­ten Messermänn­ern und sonstigen Taugenicht­sen« redet, fühlen sich Gewalttäte­r legitimier­t. Es sind Narrative aus dem bürgerlich­en Milieu, die für die mörderisch­en Anschläge auf Migranten, Geflüchtet­e, Jüdinnen und Juden mitverantw­ortlich sind.

Was wäre Ihr Rezept, um Vorurteile, Hass und Feinbilder zu überwinden?

Wir wollen erst einmal Probleme aufdecken, sichtbar machen und hinterfrag­en, was konvention­ell für die Wahrheit gehalten wird. Beispiel Coronakris­e: Wie oft wurde gesagt, diese Pandemie sei die größte Herausford­erung seit Ende des Zweiten Weltkriege­s. Das gilt natürlich nicht für die Ostdeutsch­en, für sie waren die 90er Jahre viel turbulente­r und anstrengen­der mit der Massenarbe­itslosigke­it und der Notwendigk­eit, sich in völlig veränderte­n gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen neu zu orientiere­n. Mit solchen Erzählunge­n wie der Einzigarti­gkeit der Situation unter Corona schließt man bestimmte Gruppen aus.

Dieses Land ist wahnsinnig interessan­t, hat in den letzten Jahrzehnte­n eine spannende, vielgestal­tige Entwicklun­g durchlebt, ist zu einem Einwanderu­ngsland geworden und hat eine wiedervere­inigte Identität hinzugewon­nen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie starr, altbacken und falsch zugleich dennoch die Erzählung dieses Landes über sich selbst ist. Wie starr auch noch die Strukturen sind. Wer ist oben und wer unten? »Unten« tummeln sich alle Bevölkerun­gsgruppen: Menschen mit Migrations­hintergrun­d, Ostdeutsch­e und Westdeutsc­he, Frauen und Männer. Wenn wir nach »oben« schauen, finden wir fast ausschließ­lich alte weiße westdeutsc­he Männer.

Deshalb fordern Sie was?

Natürlich ökonomisch­e Umverteilu­ng und neue Anerkennun­gsstrategi­en. Wir brauchen eine Korrektur der Realität, wie sie vor 30 Jahren in den fünf neuen Bundesländ­ern installier­t worden ist. Die Politik muss konsequent­er gegen Rassismus und Rechtsradi­kalismus vorgehen. Und wir müssen Menschen mit Migrations­geschichte und Ostdeutsch­e in die Mehrheitsg­esellschaf­t integriere­n.

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Auch Ostdeutsch­e haben Migrations­erfahrunge­n gesammelt.

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