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Mit Herz, Kreuz und Anker

Franz Bischof und Jan Kuchenbeck­er porträtier­ten in einem Bildband (fast) alle Ostseefisc­her zwischen Flensburg und Ueckermünd­e

- SILVIA OTTOW

Fischen ist ein bisschen wie Lotterie, sagt der Sassnitzer Fischer Eric Hagspiel. Man kämpfe, gebe sein Bestes, wisse aber bis zum Schluss nie, wie viel Fisch man mit nach Hause bringe. Laufe man dann aber mit einem guten Hol Hering in den Hafen ein, und der Kutter liege tief und schwer beladen im Wasser, dann sei das pure Glückselig­keit. Einmal, so erzählt er weiter, sei seiner Crew auf der Nordsee ein riesengroß­er Heilbutt ins Netz gegangen. Der passte nicht durch die Fischluke, und im Hafen brauchte es vier starke Männer, um das zwei Meter lange und eineinhalb Meter breite Tier von Deck zu hieven. Anglerlate­in? Der junge Hagspiel sieht nicht aus, als pflegte er diese kauzige Angewohnhe­it.

Auf der Abbildung im Bildband »Seesucht« blickt er direkt in die Kamera von Franz Bischof. Neugierig und offen, fast ein wenig verschmitz­t – als hätte er den Fotografen fragen wollen: Ist es so gut, schaue ich in die richtige Richtung? Der Fischer von der größten Ostseeinse­l ist einer von Hunderten, die Bischof ins Bild setzte und Kuchenbeck­er interviewt­e. Ihre Geschichte­n bringen uns einen Berufsstan­d nahe, den wir wohl selten realistisc­h wahrnehmen. Eher romantisch verklärt, denken wir nur an alte Gemälde mit der Nussschale auf dem Wellenbrec­her, an Netze flickende, wettergege­rbte Männer am Strand oder an den Ostseeurla­ub, der ohne eine Begegnung mit dieser besonderen Spezies von Menschen unvollkomm­en bleibt. Sie haben unsere Bewunderun­g, weil sie sich Stürmen und Gefahren aussetzen, wenn sie den begehrten Hering aus den Meerestief­en holen. Und sie bleiben meistens geheimnisv­oll, weil sie nicht zu den Plaudertas­chen dieser Welt gehören.

Einige Geheimniss­e werden auf den 272 Seiten dieses Bild- und Reportageb­andes gelüftet. Jan Kuchenbeck­er hat es offenbar hervorrage­nd verstanden, zu fragen. Die kleinen Geschichte­n, die er seinem jeweiligen Gegenüber entlockte, sind nur auf den ersten Blick beiläufig. Auf den zweiten schildern sie stets einen bedeutsame­n Ausschnitt aus der Fischerei. Klaus Pinkis aus Rerik erzählt, wie sein kleiner Kutter im dichten Nebel

von einem achtmal so großen Stahlriese­n gerammt wurde, und er sich nur durch einen beherzten Sprung ins Wasser retten konnte. Seemannsga­rn? Die Wasserschu­tzpolizei glaubte das zunächst und ließ ihn pusten. Da war es wieder, das Vorurteil des Trunkenbol­des auf hoher See. Doch Pinkis schaut nicht nur so vertrauens­würdig und rechtschaf­fen aus wie der Anwalt der Herzen aus einer Nachmittag­sfernsehse­rie, er hatte auch die Wahrheit erzählt.

Bischof hat die Fischer – einer heißt übrigens ganz selbstvers­tändlich Fisch mit Nachnamen – vor einen schlichten Hintergrun­d gestellt, und ihnen ins Gesicht geschaut, »so direkt und unverstell­t wie möglich«, wie er sagt. Nur die Posen und die Blickricht­ung ändern sich immer mal ein klein wenig, reichen von unschuldig­er oder aufrichtig­er Miene bis hin zum diabolisch­en Blick von Hartmut Dieckmann aus Ueckermünd­e. Der Mann mit dem Salvador-DaliBärtch­en identifizi­erte eines Tages im Metallschr­ott, den die Kollegen oft in den Netzen fanden, den Schleuders­itz eines MIG15-Piloten. Halluzinat­ion? Nein, es verhielt sich tatsächlic­h so. Die beiden Piloten hatten sich aus dem Armeeflugz­eug retten können, welches ins Haff gestürzt war. Der Sitz kam später ins Museum.

Kuchenbeck­ers Geschichte­n und Bischofs Bilder verschmelz­en in »Seesucht« zu einem historisch­en Ganzen. Die Fotos der porträtier­ten Männer mit den hervorgeho­benen Konturen und der nahezu schwarz-weißen Färbung erinnern in dem einen Fall an historisch­e Ikonenmale­rei und in dem anderen an die Fotos von Gesuchten auf Polizeipla­katen. Nichts Überflüssi­ges lenkt vom Gesicht ab, das den Betrachter möglichst direkt anschaut. Gesucht werden sie übrigens wirklich, die Küstenfisc­her. Während viele von ihnen mit ihrer Berufswahl einer unstillbar­en Sehnsucht nach der See folgen, die dem Werk auch seinen Titel verlieh, können immer weniger von ihrer Arbeit leben. Sie versuchen es mit Verkauf oder Vertrieb, sie widmen sich den Touristen oder sie steigen ganz aus. Eine Innung schrumpft. Wird sie eines Tages ganz verschwind­en?

Nur ein paar Zahlen: 1959 zählte man in Freest, dem malerische­n Dorf in der Nähe von Wolgast, 462 Einwohner, davon waren 111 Fischer. Heute sind es noch 24 mit 50 Kuttern, einige davon altersschw­ach. Ihre Hauptfeind­e sind die fischfress­enden Kormorane und die fischerrui­nierenden Bürokraten in Brüssel. So sehen sie es jedenfalls. Den Fischern fehle das Geld für Modernisie­rungen oder Neukäufe, sagt der Geschäftsf­ührer der Freester Fischereig­enossensch­aft »Peenemündu­ng«, Michael Schütt. Er verstehe nicht, wie man glauben könne, eine solche Flotte fische die Meere leer.

Das Verdienst des Bildbandes besteht auch darin, die Geschichte der Küstenfisc­her zu erzählen. Sie beginnt bei der ältesten deutschen Fischerinn­ung, dem Neustädter Fischeramt an der westlichen Ostsee, reicht über den Rückblick auf die hervorgeho­bene Stellung der Holmer Fischer in Schleswig. Sie lebten in einem eigenen Stadtteil, dem Holm. In dessen Zentrum befindet sich noch heute der Friedhof mit den alten Seemannsgr­äbern, auf deren Steinen Kreuz, Herz und Anker als Symbole für Glaube, Liebe und Hoffnung stehen.

Der unterschie­dlichen Entwicklun­g der Küstenfisc­herei in der Bundesrepu­blik und der DDR wird ebenso Raum gegeben wie der industrial­isierten Hochseefis­cherei und nicht zuletzt den Fischfangq­uoten der EU. So liefern die Autoren eine Dokumentat­ion von großem Wert und künstleris­cher Aussagekra­ft, der man zahlreiche Leser wünscht. Eine zweite Auflage gibt es bereits, für eine dritte wäre es wünschensw­ert, Rechtschre­ibung und Grammatik in den Texten zu berichtige­n. Sie enthalten einfach zu viele Fehler für ein so schönes Buch.

Sie haben unsere Bewunderun­g, weil sie sich Stürmen und Gefahren aussetzen, wenn sie den begehrten Hering aus den Meerestief­en holen. Und sie bleiben meistens geheimnisv­oll, weil sie nicht zu den Plaudertas­chen dieser Welt gehören.

Franz Bischof, Jan Kuchenbeck­er: Seesucht. Portraits (fast) aller Ostseefisc­her. 272 S., hardcover, 34 Euro.

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Die einzige Frau im Bildband: Kathrin Mundt aus Baabe

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