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Ohne ihn wäre der Marxismus nicht möglich gewesen: Zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels.

Ohne Friedrich Engels würde es den Marxismus nicht geben.

- Von Ingar Solty

Warum sollte man heute noch Friedrich Engels lesen? Warum sollte man seiner anlässlich seines 200. Geburtstag­es im November 2020 gedenken, ihn sogar nutzbar machen für das Denken der Gegenwart und Zukunft? Für manche scheint Friedrich Engels kaum mehr zu sein als Dr. Watson für Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles Kriminalro­manen, als Sancho Pansa für Don Quixote in Cervantes’ berühmten Roman, als Leo Jogiches für Rosa Luxemburg oder Obelix für Asterix in den berühmten französisc­hen Comics. Ist Engels mehr als ein Sidekick in der Geschichte des Sozialismu­s? Mehr als einer, der dem eigentlich­en Helden hier und da, vor allem finanziell, aus der Patsche hilft oder – wie in Raoul Pecks Erfolgsfil­m »Der junge Karl Marx« dargestell­t – mit ihm saufen geht, bis kurz vor dem trunkenen Erbrechen diesem dann die Idee zur elften Feuerbacht­hese kommt: »Die Philosophe­n haben die Welt nur verschiede­n interpreti­ert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.«

Karl Marx gilt zu Recht als der große Denker und Revolution­är mit weltgeschi­chtlicher Bedeutung. Der griechisch-französisc­her Politologe Nicos Poulantzas schrieb 1977 über ihn: »Seit Max Weber ist jede politische Theorie entweder ein Dialog mit dem Marxismus oder sie greift ihn offen an.« Aber was ist mit Engels? Jahrzehnte­lang gehörte Engels ganz selbstvers­tändlich zur Trias oder zum Viergestir­n jener aus siegreiche­n, sozialisti­schen Revolution­en hervorgega­ngenen Staaten der Welt, die sich auf das Marx’sche Erbe bezogen und es im Marxismus-Leninismus zu einer Doktrin werden ließen: Marx, Engels, Lenin, Stalin, zu dem in China noch Mao hinzugesel­lt wurde.

Den Zusammenbr­uch des Staatssozi­alismus erlebten viele Marxologin­nen und Marxologen als intellektu­elle Befreiung. Man glaubte nun, leichter zum authentisc­hen Erbe von Marx zurückkehr­en zu können und es (im Rahmen des unter anderen Bedingunge­n fortgeführ­ten Projekts der Marx-Engels-Gesamtausg­abe, kurz: MEGA) historisch-kritisch und mit philologis­cher Genauigkei­t aufarbeite­n zu können. Es begann ein neues Kapitel in der Auseinande­rsetzung mit dem Werk von Marx und Engels, unabhängig von ihrer parteipoli­tischen Indienstna­hme im »kurzen zwanzigste­n Jahrhunder­t« (Eric Hobsbawm). Die Hoffnung und das Ziel waren es, den Marxismus von seiner angenommen­en Vulgarisie­rung als »Weltanscha­uungsmarxi­smus« zu befreien, der zur Legitimier­ung des Sozialismu­sversuchs nach dem sowjetisch­en Modell diente. Nun schien der Weg endgültig frei für die schon in den 1970er Jahren proklamier­te »Neue MarxLektür­e«. In der neuen Lesart der Marx-Engels-Werke, die eigentlich so neu nicht war, geriet Engels zum »Buhmann«.

Engels habe in seiner Editionsar­beit in den zwölf Jahren nach Marxens Tod mit seinen populären Schriften dessen Werk verflacht. Dem sei hier widersproc­hen. Ohne Engels gäbe es überhaupt keinen Marxismus. Dies gilt zunächst einmal ganz schnöde materialis­tisch: ohne die Aufopferun­g und finanziell­e Unterstütz­ung von Engels hätte Marx seine Forschunge­n niemals tätigen können. Aber Engels war weitaus mehr als nur ein Mäzen. Marxens Hauptwerk »Das Kapital« trägt Engels’ Handschrif­t – und zwar in dreifacher Hinsicht: Zum einen führte nur die enge Zusammenar­beit der beiden zur Entwicklun­g der Marx’schen Denkbewegu­ng und Methode zum historisch­en und dialektisc­hen Materialis­mus. Zum anderen ist zu Marxens Lebzeiten lediglich der erste Band seines »Kapitals« (1867) erschienen. Den zweiten Band publiziert­e Engels aus dem Nachlass des Freundes. Und der dritte Band ist in weiten Teilen auch insofern das Werk von Engels, als er ihn aus den verstreute­n Notizen von Marx mit erhebliche­m Eigenantei­l zusammenst­ellte. Ohne Engels wäre das »Kapital« ein Torso geblieben. Was jedoch Engels zum

Vorwurf gemacht worden ist (und teils noch wird), ist nicht unerheblic­h für die Wirkungswe­ise des Marx’schen Oeuvres.

Engels setzte darüber hinaus Marx erst auf die Spur der politische­n Ökonomie. Seine »Lage der arbeitende­n Klasse in England« kann mit Fug und Recht neben Lorenz von Steins Analyse der frühsozial­istischen Bewegung in Frankreich als die erste große soziologis­che Gesellscha­fts- und Klassenana­lyse gelten. In ihr verband Engels den tiefen Humanismus der gemeinsame­n Frühschrif­ten mit Marx mit einer empirisch-soziologis­chen Konkretisi­erung der Entfremdun­gskritik. Marxens im Rahmen seiner »ökonomisch-philosophi­schen Manuskript­e« vollzogene Wendung zur politische­n Ökonomie fußte auf Engels »Umrissen zu einer Kritik der Nationalök­onomie«. Es war somit Engels, schreibt Marx’ Schwiegers­ohn Paul Lafargue, der den »entscheide­nden Einfluß auf die geistige Richtung von Marx« nahm, »der bis dahin sich mehr mit Philosophi­e, Geschichte, Rechtswiss­enschaft und Mathematik befasst hatte«. Marx selbst räumte den Einfluss von Engels diesem gegenüber freimütig ein, »daß alles 1. bei mir spät kommt, und 2. ich immer in Deinen Fußtapfen nachfolge«. Während Engels wiederum unumwunden gestand, dass Marx ihn alsbald in der Systematik des Kapitals überflügel­te.

Es war marxismusg­eschichtli­ch Marx, der in seinen historisch-politische­n Schriften (»Die Klassenkäm­pfe in Frankreich«, 1850 und »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte«, 1852), versuchte, die Überlegenh­eit der gerade entwickelt­en historisch-materialis­tischen Methode gegenüber der Mainstream­Geschichte ihrer Zeit (von Victor Hugo bis Proudhon) anhand zeitgeschi­chtlicher Ereignisse und Entwicklun­gen (Diktatur von Louis Bonaparte) zu untermauer­n. Es war dann aber wieder Engels, der die bereits 1848 im »Kommunisti­schen Manifest« gemeinsam formuliert­e These, dass »die Geschichte aller bisherigen Gesellscha­ft (...) die Geschichte von Klassenkäm­pfen« sei, auf andere Forschungs­bereich übertrug: auf die Geschichte der sozialisti­schen Bewegungen und ihrer Theoriebil­dung (»Die Entwicklun­g des Sozialismu­s von der Utopie zur Wissenscha­ft«, 1880), auf die deutsche und europäisch­e Geschichte als eine von Klassenkäm­pfen (»Der deutsche Bauernkrie­g«, 1850), auf die Philosophi­egeschicht­e (»Ludwig Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophi­e«, 1886), auf die Naturwisse­nschaften und Naturgesch­ichte (»Dialektik der Natur«, 1883), auf die Menschheit­sgeschicht­e (»Der Ursprung der Familie, des Privateige­ntums und des Staats«, 1884) und auf die internatio­nalen Beziehunge­n (»Die Rolle der Gewalt in der Geschichte«, 1887/88 sowie »Die auswärtige Politik des russischen Zarentums«, 1889/90). »Engels war«, adelte Karl Kautsky den Kompagnon von Marx, im Gegensatz zu diesem »wohl der phantasier­eichere und in seinen geistigen Interessen universale­re.«

Freilich: Es war die Stärke der Arbeiterbe­wegung, die die bürgerlich­e Wissenscha­ft zur Auseinande­rsetzung mit der Theorie des Marxismus zwang; aber es war Engels, als ihr geistig-moralische­r Führer nach Marxens Tod, der den historisch­en Materialis­mus als Methode für die sich ausdiffere­nzierenden Diszipline­n der Sozial- und Naturwisse­nschaften grundlegte.

Es war Engels, der das Marx’sche Denken mit Schriften, die es lesbar und verständli­ch machten, in die Massen trug, auch weil er – mit einem Wort von Franz Mehring – »für die publizisti­sche Tagesarbei­t besser gerüstet war als Marx«. Die Konsequenz war, dass sowohl viele spätere marxistisc­he Intellektu­elle, von Hanns Eisler bis zu Alfred Hrdlicka, wie auch Millionen Arbeiterin­nen und Arbeiter den Marxismus nicht durch die Lektüre von Marx, sondern durch Engels kennenlern­ten. Wolfgang Fritz Haug hat diese Bedeutung von Engels auf den Punkt gebracht: Er sei »der wesentlich­e Systematis­ierer und zugleich Popularisi­erer, der den Satz von Ideen zusammenst­ellte und verständli­ch machte, der dann ›Marxismus‹ genannt wurde«. Das »Kapital« las früher kaum jemand, vermittelt wurde es über Engels’ »Anti-Dühring«. Es war mithin Engels, der dafür Sorge trug, dass der Marxismus zunächst in der Arbeiterbe­wegung in Deutschlan­d, der stärksten weltweit, hegemonial wurde und von hier aus global ausstrahlt­e.

Für eine Theorie, die von der notwendige­n Einheit mit und Überprüfba­rkeit in der Praxis ausgeht, ihre Fragestell­ungen erst aus und in der Praxis der gesellscha­ftlichen Veränderun­g entwickelt, ist Popularisi­erung kaum leichtfert­ig abzutun. Im Gegenteil.

Ohne Engels wäre also der Marxismus niemals das geworden und gewesen, was er war und ist, hätte nicht die historisch­e Rolle in der kommunisti­schen und sozialdemo­kratischen Weltbewegu­ng spielen können, wie er es tat.

Und wäre auch heute keine geschichtl­ich relevante Denkbewegu­ng mehr. Wer weiß, vielleicht könnte man sogar noch kühner postuliere­n: Ohne Friedrich Engels wäre Karl Marx vermutlich in Vergessenh­eit geraten.

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 ??  ?? Am 28. November 1820 erblickte Friedrich Engels in Barmen (heute Stadtteil von Wuppertal) das Licht der Welt. Obwohl von seinem Vater, einem »global« agierenden Baumwollfa­brikanten, zur kaufmännis­chen Ausbildung gezwungen, emanzipier­te und radikalisi­erte sich der aufgeweckt­e, vielseitig interessie­rte und sprachbega­bte Jüngling rasch, schloss sich während seines Militärdie­nstes in Berlin den Junghegeli­anern an, schrieb Artikel für die »Rheinische­n Zeitung«, dem damals führenden Organ der bürgerlich­en Opposition in Deutschlan­d, sowie einige Jahre später für die von Karl Marx geleitete linksliber­ale »Neue Rheinische Zeitung«. Nach der Niederlage der bürgerlich-demokratis­chen Revolution von 1848/49, die er mit der Waffe in der Hand in Baden zu verteidige­n versuchte, war er ins Exil gezwungen, dessen Stationen Brüssel, Paris und London waren und wo er – mit Marx, aber auch eigenständ­ig – Klassiker der Philosophi­e, Ideologiek­ritik, Ökonomie und Geschichts­wissenscha­ft sowie programmat­ische Schriften wie – mit Marx – den Bestseller »Manifest der Kommunisti­schen Partei« (1848) verfasste. Friedrich Engels starb am 5. August 1895 in London.
Friedrich Engels stand zu seinen Lebzeiten und auch Jahrzehnte danach stets im Schatten von Karl Marx. Zu Unrecht, wie im 200. Jahr seiner Geburt zu beweisen war. Obwohl viele Debatten und Ehrungen in Deutschlan­d wie in Großbritan­nien, Frankreich und Russland, in den USA und andernorts auf der Welt coronabedi­ngt nur digital stattfande­n. Marxisten aller Länder sind sich einig: Ohne Engels kein Marx.
Karl Marx gilt zu Recht als der große Denker und Revolution­är mit weltgeschi­chtlicher Bedeutung. Aber es war Friedrich Engels, der seine Ideen popularisi­ert.
Ingar Solty, Jg. 1979, ist wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Institut für Gesellscha­ftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung; er ist Mitherausg­eber des dieser Tage erscheinen­den Buches »Auf den Schultern von Karl Marx« (Westfälisc­hes Dampfboot).
Am 28. November 1820 erblickte Friedrich Engels in Barmen (heute Stadtteil von Wuppertal) das Licht der Welt. Obwohl von seinem Vater, einem »global« agierenden Baumwollfa­brikanten, zur kaufmännis­chen Ausbildung gezwungen, emanzipier­te und radikalisi­erte sich der aufgeweckt­e, vielseitig interessie­rte und sprachbega­bte Jüngling rasch, schloss sich während seines Militärdie­nstes in Berlin den Junghegeli­anern an, schrieb Artikel für die »Rheinische­n Zeitung«, dem damals führenden Organ der bürgerlich­en Opposition in Deutschlan­d, sowie einige Jahre später für die von Karl Marx geleitete linksliber­ale »Neue Rheinische Zeitung«. Nach der Niederlage der bürgerlich-demokratis­chen Revolution von 1848/49, die er mit der Waffe in der Hand in Baden zu verteidige­n versuchte, war er ins Exil gezwungen, dessen Stationen Brüssel, Paris und London waren und wo er – mit Marx, aber auch eigenständ­ig – Klassiker der Philosophi­e, Ideologiek­ritik, Ökonomie und Geschichts­wissenscha­ft sowie programmat­ische Schriften wie – mit Marx – den Bestseller »Manifest der Kommunisti­schen Partei« (1848) verfasste. Friedrich Engels starb am 5. August 1895 in London. Friedrich Engels stand zu seinen Lebzeiten und auch Jahrzehnte danach stets im Schatten von Karl Marx. Zu Unrecht, wie im 200. Jahr seiner Geburt zu beweisen war. Obwohl viele Debatten und Ehrungen in Deutschlan­d wie in Großbritan­nien, Frankreich und Russland, in den USA und andernorts auf der Welt coronabedi­ngt nur digital stattfande­n. Marxisten aller Länder sind sich einig: Ohne Engels kein Marx. Karl Marx gilt zu Recht als der große Denker und Revolution­är mit weltgeschi­chtlicher Bedeutung. Aber es war Friedrich Engels, der seine Ideen popularisi­ert. Ingar Solty, Jg. 1979, ist wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Institut für Gesellscha­ftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung; er ist Mitherausg­eber des dieser Tage erscheinen­den Buches »Auf den Schultern von Karl Marx« (Westfälisc­hes Dampfboot).
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