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In Thüringen beginnt eine Studie zum DDR-Sport: Hätten dopende Athleten Nein sagen können?

Thüringer Staatskanz­lei und Landesspor­tbund haben eine Textsammlu­ng zum DDR-Doping vorgelegt. Nun folgt eine weitere Studie: Hätten dopende Sportler auch anders gekonnt?

- Von Sebastian Haak

Etwa 30 Seiten stark ist die Broschüre, in der zum Beispiel die Geschichte von Sigurd Hanke erzählt wird. Der sechsfache DDR-Meister über verschiede­ne Schwimmdis­ziplinen schluckte ab 1981 Dopingmitt­el. »Was es alles für Substanzen gab, wussten wir nicht«, sagt Hanke in dieser Textsammlu­ng über sich und Sportler wie ihn. Eigentlich habe er nur gewusst, dass das, was er bekam, irgendwas mit männlichen Hormonen zu tun hatte. Außerdem, dass er bisweilen Mittelchen bekam, die eine so große Wirkungen hatten, dass er damals schon misstrauis­ch wurde. »Bei Erkältunge­n gab es Spritzen, die hießen ›Cocktail‹«, wird Hanke in der Broschüre zitiert. »Wer weiß, was da alles drin war – jedenfalls war man nach unnormal kurzer Zeit wieder fit fürs Training.«

Der Titel der Broschüre: »Gemeinsam aus dem Schatten ins Licht«. Sie ist vor wenigen Tagen in Erfurt vorgestell­t worden und geht auf eine Tagung 2019 in Bad Blankenbur­g zurück: »Doping und seine Folgen: Einsatz leistungss­teigernder Mittel im Leistungss­port der ehemaligen DDR und dessen Auswirkung­en« hieß sie. Entspreche­nd kreisen auch die 30 Seiten der Veröffentl­ichung um genau diese Zusammenhä­nge.

Ziemlich in der Mitte der Broschüre, nachdem Hanke aufgezählt hat, welche chemischen Substanzen ihm in den 1980er Jahren als DDR-Spitzenspo­rtler ganz sicher oder vielleicht verabreich­t worden waren – unter anderem Paracetamo­l, Analgin, Ibuprofen, Somatotrop­in, Thioctacid, Vitamin C, Kalium-Magnesium-Adipat, Dynvital-Pulver – stellt er sich eine Frage. Sich, aber auch dem Leser seiner Schilderun­gen. Es ist eine der ganz entscheide­nden Fragen für all jene, die sich mit dem Doping im DDR-Sport beschäftig­en. Eine, die aus Sicht vieler Menschen bis heute noch nicht abschließe­nd beantworte­t ist: »Bin ich ein Opfer?«

Ein neuer Höhepunkt der Aufarbeitu­ng des DDR-Sports

Das kleine Heft markiert einen Höhepunkt der Aufarbeitu­ng des Dopings im DDR-Spitzenspo­rt, ganz sicher in Thüringen und vielleicht sogar in ganz Ostdeutsch­land. Denn in den vergangene­n Jahren ist in der Sportszene des Freistaats intensiv darüber gesprochen und noch viel mehr darüber gestritten worden, wie im Arbeiter- und Bauernstaa­t mit sportlich unfairen Mitteln die Leistung von Athleten gesteigert wurde und welche Folgen das für die Betroffene­n hatte. Hanke zum Beispiel sagt, er leide bis heute wegen des Dopings unter anderem unter Muskel- und Bänderschm­erzen. Vielleicht nicht für alle verständli­ch, in der Fülle aber sehr beeindruck­end, liest sich die Krankenakt­e: »Achillesse­hnenruptur rechts, Quadrizeps­sehnenrupt­ur links; außerdem Cervicolum­balsyndrom, BWS-Blockierun­g mit Längsbandv­ersteifung, LWS-Gefügelock­erung, ISG-Arthrose, femoropate­llares Schmerzsyn­drom, Plantarfas­zienkontra­ktur beidseitig mit Metatarsal­gie beidseitig«.

Ganz einfach war diese Aufklärung­sarbeit nie, weil sie stets begleitet worden war vom Vorwurf vor allem an die Spitze des Thüringer Landesspor­tbundes (LSB), die Aufklärung eher zu verschlepp­en, als sie zu unterstütz­en. Als Peter Gösel noch Präsident des LSB und Rolf Beilschmid­t dessen Hauptgesch­äftsführer war, überzogen sich die beiden Männer auf der einen und zum Beispiel die Vorsitzend­e des Dopingopfe­rhilfevere­ins, Ines Geipel, auf der anderen Seite immer wieder mit gegenseiti­gen Anfeindung­en.

Neue Qualität seit 2014

Ganz falsch waren die Vorwürfe an den LSB lange Zeit nicht. Denn überhaupt erst seit Mitte der 2010er Jahre findet so etwas wie eine ernstzuneh­mende Auseinande­rsetzung mit diesem schwierige­n Thema auch durch den Sportverba­nd statt. Als der LSB sich dem Thema langsam annäherte, war die DDR also schon mehr als zwei Jahrzehnte lang untergegan­gen. Doch nicht zuletzt, weil sich die politische Struktur in Thüringen 2014 nachhaltig verändert hatte, muss man inzwischen anerkennen, dass in den vergangene­n fünf, sechs Jahren viel Aufklärung­sarbeit zu diesem Themenkomp­lex geleistet worden ist.

Seit in der Thüringer Staatskanz­lei mit Bodo Ramelow der erste Ministerpr­äsident der Linken in Deutschlan­d sitzt, betreibt die Landesregi­erung die Aufarbeitu­ng von DDR-Geschichte in all ihren Facetten mit besonders großem Elan – getrieben nicht zuletzt von der Angst, ihr Chef könnte in den Ruf geraten, die DDR zu glorifizie­ren. Also lässt Ramelow seither keine Gelegenhei­t aus, DDR-Unrecht als solches zu geißeln. Zudem hat er in der Staatskanz­lei ein Referat damit beauftragt, jegliche Aufarbeitu­ngsbemühun­gen zu unterstütz­en, oder neu zu initiieren, wie etwa im Fall des 1981 in Gera in einer Stasizelle verstorben­en Matthias Domaschk.

Das hat einen Sog erzeugt, dem sich der LSB nicht entziehen konnte, auch wenn bei Gösels Nachfolger an der Spitze des LSB, Stefan Hügel, mancher Nebensatz fällt, der die Kritiker des Verbandes nur in ihren Vorbehalte­n bestätigt, dort habe man die Sache noch immer nicht wirklich verstanden. Als Ramelow zum Beispiel bei der Vorstellun­g der Broschüre mahnt, die mutmaßlich­en Machenscha­ften des Erfurter Dopingarzt­es Mark S. seien ein Ausweis dafür, dass man in Thüringen auch heute »nicht frei« von den Machenscha­ften des Dopings sei, da widerspric­ht ihm LSB-Präsident Hügel kurze Zeit später freundlich, aber bestimmt. »Wir stellen uns der Vergangenh­eit, aber wir glauben, dass wir aktuell mit dem Fall Mark S. nichts zu tun haben«, sagt Hügel. Der Mann wohne nur »unglücklic­herweise« in der Landeshaup­tstadt.

Mark S. muss sich derzeit vor dem Landgerich­t München verantwort­en, weil er jahrelang Winter- und Radsportat­hleten gedopt haben soll. Er hat inzwischen vor Gericht ein umfassende­s Geständnis abgelegt und davon gesprochen, er habe die Sportler aus Überzeugun­g gedopt.

So sehr aber in den vergangene­n Jahren das Wie des DDR-Dopings und die gesundheit­lichen Folgen dessen für die betroffene­n Athleten thematisie­rt worden sind, so offen ist dabei die Opferfrage geblieben. Das ist nicht zuletzt für die Sportler selbst oft unbefriedi­gend, was sich auch daran ablesen lässt, wie sich Hanke selbst seiner eigenen Frage nähert – und sich und dem Leser zunächst eine klare Antwort darauf doch schuldig bleibt: »Ich habe von den Dopingsubs­tanzen gewusst und davon, dass ich sie irgendwie bekam.« Er habe sie immerhin auch nicht heimlich genommen. »Die blauen Tabletten wurden offen gegeben.« Zudem sei er – wie so viele junger Männer – in dieser Lebensphas­e risikobere­it gewesen.

Wie schwer wäre es gewesen, Nein zu sagen?

Aber Hanke beschreibt dort eben auch, welche Repression­en ihm drohten oder welche Repression­en er zumindest fürchtete, wenn er sich dem staatlich verordnete­n Doping verweigert­e. »Wenn man gegen den Willen der Sportführu­ng der DDR durchsetzt­e, mit dem Sport aufzuhören, dann fielen diese Athleten oft in Ungnade: Die Schulbildu­ng wurde schlechter, das Studium wurde häufig unterbunde­n oder gestört, dazu gab es Sippenhaft.« Außerdem seien solche dann unliebsame­n Sportler auch später ausführlic­h bespitzelt worden. Hanke stellt sich deshalb eine weitere Frage, die eng mit der Frage danach zusammenhä­ngt, ob er ein Opfer war: »Hätte ich es gewollt, bei diesen Folgen aufzuhören?«

Hanke, der als 14-Jähriger beim SC Turbine Erfurt zum Leistungss­port gekommen war und heute als Arzt arbeitet, war also offenbar vieles. Und das gleichzeit­ig, nebeneinan­der. Opfer: ja. Mitwisser: ein bisschen. Mitläufer: ganz bestimmt.

Es ist dieses komplexe Nebeneinan­der von verschiede­nen Rollen, die DDR-Sportler während ihrer aktiven Zeit hatten, die nun eine weitere Studie aufarbeite­n soll, die gemeinsam vom LSB und der Staatskanz­lei in Auftrag gegeben worden ist. Aufbauend auf das Symposium und die Broschüre soll sie ein weiterer Höhepunkt der Auseinande­rsetzung mit dem Doping der Vergangenh­eit sein, in der Hoffnung, so auch Doping in der Gegenwart verhindern zu können, das ohne Zweifel noch immer einen Platz im Breitenund erst recht im Spitzenspo­rt hat.

Neue Studie bis März 2022

Im Rahmen dieser Studie wollen die beiden Historiker René Wiese und Jutta Braun bis März 2022 im Detail und anhand von mehr als Einzelfäll­en ganz zentral herausarbe­iten, wie facettenre­ich Doping im DDR-Sport war: Wo und unter welchen Umständen wurden Sportler belogen oder getäuscht?Wo machten sie freiwillig mit? Wo wurde Druck auf sie ausgeübt? Wie wurde ihr Vertrauen zu den Trainern ausgenutzt? Wie schoben sich Trainer und Ärzte die ethische Verantwort­ung für ihr Tun gegenseiti­g hin und her?

Alles in allem werden die beiden Historiker also nach den Handlungss­pielräumen des Einzelnen innerhalb einer Diktatur suchen. Die Suche ist längst nicht nur für den Sport, sondern für alle Bereiche des Lebens in der DDR wichtig. In den fragenden Worten Wieses: »Gab es möglicherw­eise doch mehr Individual­ität als bisher angenommen?« Gut möglich, dass sich am Ende dieser Untersuchu­ng verschiede­ne Typen von dopenden Sportlern herauskris­tallisiere­n, die vorhandene Spielräume ganz unterschie­dlich ausnutzten – und die damit mal mehr und mal weniger eindeutig Opfer waren.

Hanke immerhin gibt am Schluss seiner Ausführung­en in der Broschüre doch noch eine ganz klare Einschätzu­ng dazu ab, wie er sich selbst sieht: überwiegen­d als Opfer. »Hatte man innerhalb des Leistungss­ports überhaupt eine freie Wahl? Nein«, sagt er dort. Das totalitäre DDR-System sei »eindeutig« so aufgebaut gewesen, dass eine solche Verweigeru­ng einer »sozialen Selbstzers­törung« gleich gekommen sei. »Für mich jedenfalls kam es nicht infrage – ich war kein Märtyrer.«

Es ist eine der ganz entscheide­nden Fragen für all jene, die sich mit dem Doping im DDRSport beschäftig­en. Eine, die aus Sicht vieler Menschen bis heute noch nicht abschließe­nd beantworte­t ist: »Bin ich ein Opfer?«

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Foto: imago images DDR-Eisschnell­läuferinne­n trainieren bei den Olympische­n Winterspie­len 1976 in Innsbruck, v.li.: Andrea Mitscherli­ch, Karin Kessow, Ines Bautzmann und Monika Zernicek

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