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Monets Tragik

- Von Iris Rapoport, Boston und Berlin

Betrachtet man späte Werke des Malers Claude Monet, ist man verblüfft. Alles Liebliche ist gewichen, aggressive Rot- und Brauntöne überwiegen im beinahe grob Gemalten. Man könnte es für eine Änderung des Malstils halten, wären da nicht die Klagen des Malers in seinen Briefen: »Ich nahm die Farben nicht mehr mit der selben Intensität wahr. Die Rottöne erschienen trübe, das Rosa fade, und viele Zwischentö­ne konnte ich überhaupt nicht mehr erkennen.« Heute weiß man, Monet litt am Grauen Star. Kein heimtückis­cher Erreger ist bei dieser Krankheit im Spiel. Allein durch das Altern trübt sich die Linse des Auges.

Durchsicht­igkeit ist in der belebten Natur sehr selten. Möglich wird sie durch eine geringe Anzahl von Zellschich­ten – wie bei Libellenfl­ügeln oder der Hornhaut der Augenlinse. Auch ein enorm hoher Wasserante­il macht es möglich, wie bei Quallen oder dem Augapfel.

Doch die Augenlinse ist weder sehr dünn, noch enthält sie viel Wasser. Im Gegenteil. Sie gleicht einer vielschich­tigen Zwiebel und besteht zu fast zwei Dritteln aus Protein. Ihre fast 1000 Schalen werden von sehr langgestec­kten Zellen, den Faserzelle­n, gebildet. Deren sechseckig­er Querschnit­t macht eine dicht an dicht verlaufend­e Anordnung der Zellen von einem Pol der Linse zum anderen möglich. Weder Blutgefäße noch Nerven oder Bindegeweb­e stören diese streng geordnete Struktur. Dadurch wird die Lichtstreu­ung minimiert. Doch das reicht nicht, um die Strahlen ungehinder­t passieren zu lassen. Zellkerne und andere Organellen im Zellinnern würden sie streuen oder sogar absorbiere­n. Deshalb existiert in den Linsenzell­en ein spezielles Apoptose-Programm. Das sichert, dass sich die Zellen während des Streckens aller störenden Strukturen entledigen. Gleichzeit­ig bilden sie ganz wundersame Proteine – die Kristallin­e. Deren dickflüssi­ge Lösung streut das Licht kaum. Gleichzeit­ig ermöglicht ihr hoher Brechungsi­ndex eine Fokussieru­ng des Lichts auf die Netzhaut des Auges – dem Vorposten des Sehzentrum­s des Gehirns. So sind Kristallin­e für scharfes Sehen unverzicht­bar.

Unsere ersten Linsenzell­en werden während der Embryonale­ntwicklung gebildet und von den nachfolgen­den regelrecht eingemauer­t. Sie alle begleiten uns ein Leben lang! Gleiches gilt für die Kristallin­e. Denn da die Faserzelle­n keinen Kern mehr besitzen, können Kristallin­e, anders als andere Proteine, nie erneuert werden. Nicht einmal Reparature­n sind möglich. Deshalb sind die Hälfte aller Kristallin­e Schutzprot­eine. Nach dem englischen Wort für »Anstandsda­me« werden sie Chaperone genannt. Sie sorgen durch ordnendes Zusammenla­gern dafür, dass alle Proteine in Lösung bleiben. Doch ein menschlich­es Leben ist lang. Mit der Zeit häufen sich in den Kristallin­en die verschiede­nsten chemischen Veränderun­gen an. Das mindert ihre Löslichkei­t. Irgendwann sind die Chaperone überforder­t. Immer mehr Linsenprot­eine verklumpen und fallen aus. Das Resultat ist der Graue Star.

Heute hätte Monet vermutlich recht unkomplizi­ert geheilt werden können. Der Ersatz einer getrübten Linse durch eine aus Kunststoff ist längst Routine. Vielleicht gibt es in Zukunft noch elegantere Abhilfe: Es wird daran geforscht, aus Stammzelle­n naturident­isch glasklare Augenlinse­n zu generieren.

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