nd.DerTag

Ein kleiner Lichtblick

Der Hamburger Stefan Kraus erlebte den 9. November 1989 im italienisc­hen Florenz

-

Am 31. Oktober 1989, einem Dienstag, gegen Mittag, traf ich nach 14-stündiger Zugfahrt zusammen mit drei Studienkol­legen im herbstlich tristen Florenz ein. Sie hatten wie ich ein Halbjahres­stipendium für die dortige Uni ergattert.

Über eine Sprachschu­le, die wir gemeinsam sechs Wochen besuchen wollten, hatten wir eine Etage in einem Vorstadtwo­hnhaus an der Viale Talenti gemietet, einer sechsspuri­gen Ausfallstr­aße, die Florenz mit Pisa verbindet. Regelmäßig wurden wir nachts vom tiefen Gebrumm anfahrende­r Lkw geweckt. Die Gegend war grau, abgeblätte­rt, und im Fußgängert­unnel, den wir morgens auf dem Gang zur Bushaltest­elle durchquert­en, lagen regelmäßig gebrauchte Spritzen. Aber das war uns egal.

Wir waren in Italien, dem Land mit einer sehr starken kommunisti­schen Partei, dem Land des »heißen Herbstes« von 1969 und der Autonomia-Bewegung. Doch die Krise der Linken war 1989 auch in Italien nicht mehr zu übersehen. Achille Occhetto, Parteivors­itzender der PCI, also der Kommunisti­schen Partei Italiens, war schon lange in Richtung Sozialdemo­kratisieru­ng abgebogen.

Am Abend des 10. November – wir besaßen weder ein Radio noch einen Fernseher und hatten von den politische­n Turbulenze­n am 9. November nichts mitbekomme­n – saßen wir wie jeden Abend in der karg eingericht­eten und von einer Glühbirne ohne Schirm ausgeleuch­teten Küche mit abgeschram­mten Möbeln und Geschirrst­apeln in der Spüle. Plötzlich hielt mir mein Mitbewohne­r die »L’Unità« unter die Nase, die kommunisti­sche Parteizeit­ung, und sagte grinsend: »Hier, ließ mal!« In großen Lettern stand dort: »Il muro è caduto«. Ein oder zwei Sekunden dauerte es, bis in meinem Kopf

Palazzo Vecchio Florenz

Foto: Magnus Gertke, CC BY-SA 3.0

die Übersetzun­g gelang: »Die Mauer ist gefallen«. Augenblick­lich entfuhr es mir: »Das darf doch nicht wahr sein!«

Kurz nach dem Fall der Mauer, Mitte November 1989, kündigte Occhetto die Auflösung der PCI und deren Umbenennun­g in PDS an – Partito Democratic­o della Sinistra (Demokratis­che Linksparte­i). Man war halt auf dem Rückzug.

Bis April hielt ich mich in Italien auf und war froh, weit weg von dem nationalis­tischen Taumel zu sein. Schon der Slogan »Wir sind das Volk« ließ wenig Gutes ahnen, und der darin enthaltene Anruf des Volkskörpe­rs schlug wie nicht anders zu erwarten in »Wir sind ein Volk« um. Der tägliche Blick in die »Il Manifesto«, die Tageszeitu­ng der links der PCI angesiedel­ten Linken Italiens, ließ das Unheil immer deutlicher werden. Gleichzeit­ig war ich besorgt angesichts dessen, was die ostdeutsch­e Bevölkerun­g an wirtschaft­licher Deprivatio­n zu erwarten hatte, wenn der nationalis­tische Rausch erst einmal vorbei sein würde. Das Trauerspie­l begann.

In diesen trüben Zeiten formierte sich Ende 1989 aus der SED die PDS. Als ich zurück in Hamburg war, hatte man einen westdeutsc­hen Ableger aus der Taufe gehoben. Immerhin ein kleiner Lichtblick. Als die ersten gesamtdeut­schen Wahlen anstanden, waren viele bekannte Hamburger Linke, K-Grüppler, Sozialiste­n, DKPler, die bisher viel getrennt hatte, auf einer gemeinsame­n Liste. Endlich begann man die Gräben zuzuschauf­eln.

In dem Viertel am Hamburger Hafen mit Namen »Neustadt«, in dem ich damals lebte, tauchten im November 1990 die ersten PDS-Plakate auf, etwas kleiner als die der anderen Parteien, aber gut sichtbar. Am Wahltag machte fast jeder Zehnte in meinem Viertel sein Kreuz an die richtige Stelle. Ein Anfang war gemacht.

Damals wusste ich noch nicht, dass 15 Jahre später in Deutschlan­d eine massenwirk­same Partei links der SPD entstehen würde. Ironie der Geschichte: Die italienisc­he Linke wurde nach 1989 pulverisie­rt – in Westdeutsc­hland entstand erstmals seit 1956 wieder etwas, das sich dieser Bezeichnun­g als halbwegs würdig erwiesen hat.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung

 ??  ?? Die italienisc­he Linke wurde nach 1989 pulverisie­rt – in Deutschlan­d entwickelt­e die PDS eine breite Basis.
Die italienisc­he Linke wurde nach 1989 pulverisie­rt – in Deutschlan­d entwickelt­e die PDS eine breite Basis.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany