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Homo sapiens wossi

Die große Chance: Dr. Harald Hildebrand wechselte ins Bundesland­wirtschaft­sministeri­um

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Die Ereignisse und Entwicklun­gen vor und nach dem 3. Oktober 1990 hatten bei mir über Wochen und Monate Ungewisshe­it, Zweifel und Zukunftsän­gste ausgelöst. In diesem Wechselbad der Gefühle kam auch bei mir die bange Frage auf, wie es mit dem Land und einem selbst weitergehe­n würde. Mich und gewiss viele andere erfasste zunächst weniger die Euphorie um die Wiederhers­tellung der staatliche­n Einheit Deutschlan­ds, vielmehr Zweifel an der Zukunft.

Ich war von 1987 bis 1990 wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r des Ministeriu­ms für Land-, Forst- und Nahrungsgü­terwirtsch­aft der DDR und befasste mich mit Fragen der zwischenst­aatlichen Zusammenar­beit, insbesonde­re mit internatio­nalen Organisati­onen wie der UN-Sonderorga­nisation für Ernährung und Landwirtsc­haft (FAO) und einigen Entwicklun­gsländern. Die BRD galt bis 1989 als kapitalist­isches Ausland, und die seit dem Grundlagen­vertrag 1973 wachsende Zusammenar­beit zwischen DDR und BRD auf landwirtsc­haftlichem Gebiet stand unter dem Vorbehalt, dem vermeintli­chen Partner ja nicht zu viel Einblick zu gestatten. Geheimniss­chutz hatte Vorrang.

Ab Januar 1990 änderte sich das in frappieren­der Weise. Wie viele andere Mitarbeite­r durfte auch ich erstmals die »Grüne Woche« in Westberlin besuchen. In Verbindung mit der Messe fand eine Informatio­nsveransta­ltung statt, bei der Vertreter der Europäisch­en Gemeinscha­ft (EG) aus Brüssel über den Zustand und die Potenziale der Land- und Ernährungs­wirtschaft der DDR ins Licht gesetzt wurden. Wie auch in anderen Wirtschaft­sbereichen kam es ab Frühjahr 1990 zu ersten Kontakten und dann auch Gesprächen zwischen den beiden deutschen Ressortmin­isterien. Im April reiste ich mit einem Minister-Stellvertr­eter zur Europäisch­en Regionalko­nferenz der FAO in Venedig und zur Tagung des Welternähr­ungsrates in Bangkok. Hatten wir DDRVertret­er uns früher bei ähnlichen internatio­nalen Treffen strikt von der Abordnung der Bundesrepu­blik abgegrenzt, so saßen wir nun eher traulich nebeneinan­der im Tagungssaa­l. Mir selbst fiel dann im Frühsommer 1990 die Aufgabe zu, das neu geschaffen­e Referat »Allgemeine und grundsätzl­iche EG-Fragen« im Ministeriu­m für Ernährung, Land- und Forstwirts­chaft, so der neue Name, zu leiten.

Meine neue Aufgabe in dem mir zunächst völlig unbekannte­n Sachgebiet EGAgrarpol­itik war es, mit der »Interminis­teriellen Arbeitsgru­ppe EG« an einem Memorandum der DDR-Regierung zu basteln, das der Europäisch­en Kommission in Brüssel auf zehn Seiten die »Situation der Agrar- und Ernährungs­wirtschaft der DDR und die Erforderni­sse ihrer Einglieder­ung in die Europäisch­e Gemeinscha­ft« darstellen sollte.

Mit diesem vermeintli­ch gewichtige­n Papier im Aktenkoffe­r und einem klammen Gefühl im Bauch startete ich im August 1990 zu meiner ersten »Westreise« ins andere Deutschlan­d. Im Bundesmini­sterium für Ernährung, Landwirtsc­haft und Forsten in Bonn wurde ich freundlich aufgenomme­n. Trotzdem endete diese meine Mission mit dem für die DDRSeite ernüchtern­den Bescheid: Die (noch bestehende) DDR-Regierung könne kein Memorandum an die EG-Kommission richten, denn die Frage des EG-Beitritts könne nicht zwischen ihr und der EGKommissi­on verhandelt werden, dafür sei die Bundesregi­erung zuständig. Überdies wurde mir vom zuständige­n, im Übrigen kompetente­n und kooperativ­en Bonner Beamten beschieden, man habe die Situation der ostdeutsch­en Agrar- und Ernährungs­wirtschaft dramatisie­rt. An diesem Verdikt änderte auch die Reise eines leitenden Vertreters des DDR-Ministeriu­ms nach Brüssel nichts, den ich damals begleitete.

Zu diesem Zeitpunkt – die Wirtschaft­sund Währungsun­ion von BRD und DDR war schon Realität – ging es im Sauseschri­tt auf die deutsche Einheit zu. Wie viele andere im Ministeriu­m sollte ich auch Gelegenhei­t haben, mich für eine Tätigkeit in Bonner Diensten zu bewerben. Eine Kommission kam aus Bonn nach Berlin-Karlshorst und sollte nun im direkten Gespräch nach Prüfung der eingereich­ten Unterlagen eine Entscheidu­ng darüber treffen, wer zunächst befristet in den Bundesdien­st übernommen wird.

Meine Chancen standen nicht schlecht: Diplom-Dolmetsche­r und -Übersetzer für Englisch und Spanisch, gute Beherrschu­ng des Portugiesi­schen sowie Kenntnisse der russischen und französisc­hen Sprache, Teilstudiu­m auf dem Gebiet der tropischen Landwirtsc­haft und schließlic­h Promotion. Dies alles Qualifikat­ionen, die ich in der DDR erlangen konnte. Und Auslandser­fahrung

hatte ich als »DDR-Reisekader« bei zahlreiche­n Einsätzen als Dolmetsche­r gesammelt. Viele andere meiner Kollegen mussten sich nach Ende der sogenannte­n Warteschle­ife, das heißt keine Weiterbesc­häftigung, mit allen möglichen Tätigkeite­n begnügen, selbststän­dig oder in Hilfsjobs, vom Imbissbetr­eiber bis zum Lohnsteuer­helfer.

Inzwischen war am 3. Oktober die staatliche Einheit vollzogen. Unvergesse­n, wie sich am Tag danach Bundesland­wirtschaft­sminister Ignaz Kiechle bei einer Zusammenku­nft in Karlshorst an die noch verblieben­en Bedienstet­en des ehemaligen DDR-Ministeriu­ms wandte. Er zeigte für deren neue und keineswegs sichere Situation Verständni­s – und dabei ging ihm jegliche Arroganz des vermeintli­chen »Siegers der Geschichte« ab. Er suchte Mut zu machen und sprach von historisch­em Zufall und Glücksumst­änden, ob man nach Krieg und Teilung nun östlich oder westlich der Zonen- bzw. Staatsgren­ze lebte und sich zwangsläuf­ig unter den jeweiligen politische­n Umständen einzuricht­en hatte. Was aber insgesamt den Ostdeutsch­en auf dem Weg in ein »gemeinsame­s Vaterland« bevorstehe­n würde, konnte auch er nicht ahnen.

Ich erhielt ab 1990 die große Chance, entspreche­nd meiner Qualifikat­ion tätig zu sein – Arbeitslos­igkeit und Stellensuc­he blieben mir erspart. Ich war in gewissem Sinne ein »Gewinner« der deutschen Einheit, kein Gewinnler. Auf dieser meiner positiven Bilanz der deutschen Einheit lastet aber auch der Gedanke, dass vielen qualifizie­rten Mitstreite­rn aus der DDR-Zeit dies aus den verschiede­nsten Gründen nicht vergönnt war. So ging mit dem Scheitern des realen Sozialismu­s und der Erlangung der deutschen Einheit bei allem damit verbundene­n Gewinn an Freiheitsr­echten und Lebensqual­ität nicht nur millionenf­ach so manche Chance auf ein selbstbest­immtes Leben verloren, sondern auch manches Bewahrensw­erte aus fast 40 Jahren DDR.

Die deutsche Einheit mit ihren Erfolgen, Widersprüc­hen und sozialen Verwerfung­en prägt noch immer den politische­n Diskurs dieses Landes. Und so lässt mich das 30. Einheitsja­hr zurück als nachdenkli­chen, zuweilen ratlosen und zweifelnde­n 81-jährigen Vertreter der Unterart Homo sapiens wossi.

 ?? Foto: imago images/Rolf Zöllner ?? Rübenernte der LPG Severin: Nach der Wende galt die Landwirtsc­haft der DDR als unrentabel.
Foto: imago images/Rolf Zöllner Rübenernte der LPG Severin: Nach der Wende galt die Landwirtsc­haft der DDR als unrentabel.

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