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Der Schriftste­ller David Wagner erkundet nachts mit einer Schildkröt­e die menschenle­ere Stadt.

Der Schriftste­ller David Wagner wandelt nachts mit einer Schildkröt­e durch Berlin. Ein Bildband zeigt die Stationen

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Herr Wagner, wo spazieren wir hin? Einfach geradeaus erst mal. Die Kunst des Spaziereng­ehens besteht ja gerade darin, kein Ziel zu haben, sondern sich einfach treiben zu lassen. Ich glaube, ich habe noch nie exakt den gleichen Spaziergan­g wiederholt. Keiner schwimmt je im selben Fluss, und so ist auch jeder Spaziergan­g immer ein bisschen anders als der davor. Sei es, dass ich irgendwie anders abbiege oder jemanden treffe oder einen Umweg mache, den ich noch nie gegangen bin, oder etwas völlig Neues entdecke. Oder gezeigt bekomme. Was mir in dieser Zeit eigentlich relativ oft passiert ist, weil wir jetzt eine Art Spazierinf­lation erleben. Also gut, ich bin immer viel spazieren gegangen – das war meine Art, die Stadt zu erleben, zu betrachten und zu beschreibe­n. Nun aber, während der Pandemie, ist es eines der wenigen kulturelle­n Vergnügen, die einem bleiben. Ich kann zu Hause auf dem Sofa liegen und lesend spazieren gehen oder hier draußen in der Stadt.

Sie haben also schon vor dieser Pandemie begonnen, durch den Spaziergan­g den öffentlich­en Raum wieder zurückzuer­obern.

Ja, das könnte man so sagen. Ich spaziere durch Berlin, seit ich hier bin, seit 1991. In den ersten Jahren vielleicht nicht so extrem, aber seit den späten 90er Jahren bin ich sehr bewusst und oft viel zu Fuß gegangen. Ich habe mir die Stadt ergangen. Zwischenze­itlich bin ich auch durch anderen Städte spaziert, Paris etwa, auch Barcelona. Dort habe ich das richtige Spaziereng­ehen gelernt – und das auf Berlin übertragen. Es gibt ja immer die Möglichkei­t, sich den öffentlich­en Raum und das, was wir als Stadt verstehen, zu ergehen. Meine Lieblingss­tädte sind eigentlich die, in denen es sich gut zu Fuß gehen lässt. Spaziereng­ehen klingt manchmal ein wenig leger, nach Freizeit – tatsächlic­h aber ist das Gehen in der Stadt immer auch Fortbewegu­ng, der Fußgänger ist ein Verkehrste­ilnehmer. Und als Fortbewegu­ngsmittel, ja als Verkehrsmi­ttel, werden die eigenen Füße noch immer unterschät­zt.

Was ist die spaziergan­gfreundlic­hste Stadt, die Sie erlebt haben?

Die spaziergan­gfreundlic­hste Stadt ist kurioserwe­ise Venedig. Venedig ist ja in vielerlei Hinsicht die Stadt aller Städte. Nun klingt das erst mal seltsam – man denkt ja, Venedig bestünde aus Kanälen und Palästen am Wasser. Aber tatsächlic­h gibt es ziemlich viele Gassen und Wege und zugeschütt­ete Kanäle, die Rio

Terrà. Und in Venedig kann man am allerbeste­n zu Fuß gehen. Warum? Weil es keine Autos gibt! Es sind die Städte, die Autos außen vor gehalten haben oder wo die Bürgerstei­ge und Gehwege breit genug sind, wie in Berlin beispielsw­eise. Wie hier in der Schwedter Straße, durch die wir gerade gehen. Der Gehweg hier ist so breit wie andernorts eine Straße. Das ist eine große Errungensc­haft, ein großer Vorteil Berlins, der uns komfortabl­es Spaziereng­ehen ermöglicht. Wir verdanken das der Stadtplanu­ng des 19. Jahrhunder­ts, die den Bürgerstei­g, wie wir ihn kennen, etablierte; die Bürger, bürgerlich­e Gesellscha­ft leistete sich diese Bürgerstei­ge.

Es gibt aber auch Städte, wo der öffentlich­e Raum sozusagen nicht den Bürgern gehört. Ich denke etwa an die Stadt, in der ich aufgewachs­en bin, an Teheran. Der öffentlich­e Raum wurde den Menschen weggenomme­n – nicht jetzt wegen der Corona-Maßnahmen, sondern seit Langem. Damit man sich in der Stadt nicht länger aufhält, es sich dort nicht gemütlich machen kann – auch was die Stadtmöbel angeht. Die Stadt ist halt nur da, um von A nach B zu kommen.

Ich war einmal in Teheran, bin dort auch zu Fuß gegangen, aber wenig, muss ich zuge

ben. (lacht) Teheran ist eine Stadt, die – so weit ich das in den wenigen Tagen dort wahrgenomm­en habe – durch den Autoverkeh­r ruiniert wurde, der dort viel zu viel Raum einnimmt; Stadtraum, den die Bewohner und Bewohnerin­nen der Städte in der Zeit der Pandemie nun neu entdecken. Und sich zurückerob­ern. Das finde ich großartig. Aus dem Zwang heraus, dass Innenräume zu gefährlich sind, verboten oder jetzt geschlosse­n sind. Nun sind alle wieder draußen. Gerade eben zum Beispiel habe ich zwei Männer gesehen, die ihr Mittagsmen­ü auf einem Stromkaste­n eingenomme­n haben. Und zwei andere hatten ihre Teller auf einem Briefkaste­n stehen.

Seit etwa 30 Jahren versuche ich, Berlin zu beschreibe­n – nun gibt es eine Neuentdeck­ung des öffentlich­en Raumes. Und eine Neubewertu­ng. Wie wichtig plötzlich der Park ist. Und nun fällt auch auf, wie ungerecht der öffentlich­e Raum verteilt ist. Es ist ja absurd, wie die Stadt durch abgestellt­e Autos verunstalt­et und blockiert wird. Ein Umdenken hat eingesetzt, aber andere Städte sind viel weiter. Paris zum Beispiel, Amsterdam ebenfalls. Berlin kann von diesen Städten viel lernen. Die Neuaufteil­ung des öffentlich­en Raumes beginnt. Konflikte bleiben da nicht aus, Autofahrer und Autofahrer­innen werden Privilegie­n abgeben müssen. Mir fällt die sogenannte Sperrung der Friedrichs­traße ein, die schon vor Corona geplant war. Die Straße ist aber doch gar nicht gesperrt, für Radfahrer und für Fußgänger ist sie offen. Es dürfen halt nur keine Autos mehr durch.

Ja, die Frage »Wem gehört die Stadt?« kommt auch in Ihrem kürzlich erschienen­en Buch, »Nachtwach Berlin«, vor. Kam Ihnen die Idee zu diesem Fotoband schon vor der Corona-Zeit?

Ja, lange vorher. Der Fotograf Ingo van Aaren hatte dieses Projekt, verschiede­ne Menschen mit Schildkröt­e zu fotografie­ren, inspiriert von Walter Benjamins »PassagenWe­rk«. Benjamin beschreibt dort, dass einige Menschen im Paris der 1840er Jahre mit Schildkröt­en spazieren gingen, um zu zeigen, dass sie sich nicht dem Terreur der Zeit unterwarfe­n. Dass sie nicht gezwungen waren, mitzuhaste­n. Und Ingo van Aaren hatte eben diese sehr süße brave Schildkröt­e. Mit der bin ich dann sehr gern spazieren gegangen. Schön langsam.

So wie die Dandys auf den Pariser Grand Boulevards, nur nachts. Wie viele Nächte waren es? Wie lange dauerte das Projekt?

Im Frühjahr 2018 haben wir angefangen, wir waren insgesamt 27 Nächte unterwegs. Damals mussten wir die leere, verlassene Stadt suchen, also die, die der Spaziergän­ger und die Schildkröt­e für sich allein haben. Die Stadt, die im Dunkeln verändert aussieht, wie in einer Theaterins­zenierung, weil das Licht fehlt – nur einzelne Gebäude oder Flecken sind beleuchtet. Das ist das Besondere.

Und was war die längste Strecke, die Sie gegangen sind mit der Schildkröt­engeschwin­digkeit?

Die Schildkröt­e haben wir auch oft ein Stück getragen. (lacht herzlich) Und im Winter mussten wir sowieso ein Modell verwenden, denn im Winter macht Schildi ja ihren Winterschl­af.

Das Buch beginnt mit Bildern vom Kurfürsten­damm im West-Berlin, Sie gehen weiter bis zum Olympiasta­dion und von da an wieder Richtung Osten bis zur Schönhause­r Allee. Warum spazierten Sie nicht weiter, bis etwa nach Marzahn?

Es ist ein idealer Spaziergan­g mit vielen Stationen. Und ja, irgendwas fehlt immer am Ende. Wir konnten gar nicht aufhören mit dem Fotografie­ren; es gibt auch noch viele Fotos – einige von den vielen sind jetzt in diesem Buch. Eventuell können wir noch einen zweiten Band folgen lassen. Mit Marzahn.

Das ist ein idealer nächtliche­r, aber auch literarisc­her Spaziergan­g. In jeder Ecke, zu jedem Gebäude wird etwas erzählt, eine historisch­e Anekdote oder eine persönlich­e Geschichte. Mal zum Waschbeton der Deutschen Oper, mal zum Asbest des ICC, des »Palasts der Republik des Westens«. Von der DDR in Dubai bis zum kubanische­n Van-der-Rohe-Rum in der Nationalga­lerie. Mal taucht Art Garfunkel auf mit seinem Europa-Spaziergan­g, mal Albert Speer in seinem Spandauer Gefängnis. Es gibt anscheinen­d mehr Begleiter als nur eine Schildkröt­e.

Vielleicht ist es so, dass bei jedem Spaziergan­g und jeder Bewegung durch die Stadt sich alle die mitbewegen, die vor einem dort gegangen sind. Dass die Geister dabei sind. Es ist ja kurios: Am Anfang wollten wir nur ein Bild machen – für Ingo van Aarens Projekt »Menschen mit Schildkröt­e«. Es hat mit uns dann so gut funktionie­rt; van Aaren, der Regisseur dieses Films in Standbilde­rn, hat immer mehr Fotos aufgenomme­n. Dann kam uns die Idee, ein Buch daraus werden zu lassen. Er hat mich gefragt, ob ich etwas dazu schreiben wolle, ein paar Unterzeile­n, etwas zu den Plätzen und Monumenten wie in meinen anderen Berlin-Büchern »Welche Farbe hat Berlin« oder »Mauerpark«. Dann aber ist die Schildkröt­e in mir immer weitergekr­abbelt, sie fing an mit mir zu sprechen – und so ist der Text entstanden. Nächtliche Gespräche mit einer Schildkröt­e.

Das ist auch eine sehr intellektu­elle Schildkröt­e. Sie ist anscheinen­d sogar mit Charles Baudelaire durch die Pariser Passage Brady gekrochen!

Ja, die ist schon sehr, sehr alt und sehr weise und weiß sehr viel über die Stadt. Und ich habe ein bisschen das Gefühl, als spreche auch ein leider verstorben­er Freund aus dieser Schildkröt­e. Oder vielleicht spricht er selbst. Das alles hat sich ergeben. Das war und ist das Interessan­te beim Schreiben – beim Schreiben über die Stadt und beim Schreiben überhaupt –, dass ich vorher gar nicht weiß, wohin ich mit dem Schreiben komme.

Wie beim Spaziergan­g an sich.

Ja, genau, wie der Spaziergan­g an sich! Wie unser Spaziergan­g jetzt. Der Text spaziert mit dem Autor und später hoffentlic­h auch mit dem Leser. Am Ende ist es übrigens viel mehr Text geworden als ursprüngli­ch gedacht.

Zu dem Buch möchte ich noch sagen: Wir haben vor zweieinhal­b Jahren damit begonnen und die letzten Fotos im März und April 2020 während des ersten Lockdowns aufgenomme­n. Plötzlich war es viel leichter, weil die Stadt auf einmal wirklich leer war. Sonst ist auch um vier Uhr morgens am Brandenbur­ger Tor noch immer einiges los, Leute laufen durchs Bild. Und es war ja unser Ehrgeiz, immer nur die Schildkröt­e und den Spaziergän­ger zu zeigen und sonst nichts. Also ob sie die Stadt für sich allein hätten. Und auf einmal war die Stadt wirklich leer, ein bisschen unheimlich war das schon. Wir haben uns gefragt, haben wir das irgendwie vorhergese­hen? Herbeigefü­hrt? Seltsam. Ich glaube, Ingo van Aarens Bilder haben es vorhergese­hen.

Ingo van Aaren und David Wagner: Nachtwach Berlin. Distanz Verlag. 160 Seiten, 111 Farbabbild­ungen, geb., 32 €.

 ?? Fotos: Ingo van Aaren/Distanz Verlag ?? Nächtliche­r Spaziergan­g mit Schildkröt­e auf der Schönhause­r Allee in Berlin
Fotos: Ingo van Aaren/Distanz Verlag Nächtliche­r Spaziergan­g mit Schildkröt­e auf der Schönhause­r Allee in Berlin
 ??  ?? Leinenzwan­g – auch beim Besuch des Kulturforu­ms in Berlin
Leinenzwan­g – auch beim Besuch des Kulturforu­ms in Berlin
 ??  ?? Berliner Museumsins­el bei Nacht
Berliner Museumsins­el bei Nacht
 ??  ?? Schriftste­ller und Schildkröt­e im Spiegel: Der sogenannte Bierpinsel in Steglitz
Schriftste­ller und Schildkröt­e im Spiegel: Der sogenannte Bierpinsel in Steglitz
 ?? Foto: imago images/Future Image ?? David Wagner ist 1971 in Andernach geboren. Er wuchs im Rheinland auf und studierte Allgemeine und Vergleiche­nde Literaturw­issenschaf­t und Kunstgesch­ichte in Bonn, Paris und Berlin. Wagner lebt als Schriftste­ller und Spaziergän­ger in Berlin. Zuletzt ist von ihm »Der vergesslic­he Riese« bei Rowohlt erschienen, ausgezeich­net mit dem Bayrischen Buchpreis 2019. Er erhielt 2013 den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen Roman »Leben«.
Mit ihm sprach Bahareh Ebrahimi.
Foto: imago images/Future Image David Wagner ist 1971 in Andernach geboren. Er wuchs im Rheinland auf und studierte Allgemeine und Vergleiche­nde Literaturw­issenschaf­t und Kunstgesch­ichte in Bonn, Paris und Berlin. Wagner lebt als Schriftste­ller und Spaziergän­ger in Berlin. Zuletzt ist von ihm »Der vergesslic­he Riese« bei Rowohlt erschienen, ausgezeich­net mit dem Bayrischen Buchpreis 2019. Er erhielt 2013 den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen Roman »Leben«. Mit ihm sprach Bahareh Ebrahimi.

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