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Laufen die deutschen Löhne aus dem Ruder?

Die Arbeitskos­ten sind zu stark gestiegen, sagt Gesamtmeta­ll. Was ist tatsächlic­h passiert?

- Eva Roth

In der Pandemie ist viel von Solidaritä­t die Rede, auch die Unternehme­n appelliere­n an den Gemeinsinn: »Alle müssen einen Beitrag zur Bewältigun­g der Krise leisten«, sagte der scheidende Gesamtmeta­llchef Rainer Dulger kürzlich. Konkret fordert der Arbeitgebe­rverband zum Start der Metall-Tarifrunde von den Beschäftig­ten Lohnverzic­ht. Denn die Arbeitskos­ten seinen »aus dem Ruder gelaufen«. Was ist passiert?

Die Lohnentwic­klung in Deutschlan­d war bis zur Finanzkris­e 2008/2009 schwach bis miserabel, danach stiegen die Gehälter in der gesamten Wirtschaft deutlich stärker. In der Metallindu­strie waren gerade die letzten Tarifabsch­lüsse relativ hoch.

Doch damit soll jetzt Schluss sein. Gesamtmeta­ll fordert, dass die Tariflöhne dieses und nächstes Jahr gar nicht steigen. Stattdesse­n sollen die Gehälter sinken, indem Spätzuschl­äge gekappt werden und Beschäftig­e unbezahlt länger arbeiten. »Wir brauchen konstrukti­ve Lösungen, die zu einer Senkung der Arbeitskos­ten je Stunde führen. Die sind in den vergangene­n Jahren aus dem Ruder gelaufen. Wir sind bei den Arbeitskos­ten nicht mehr wettbewerb­sfähig mit vielen Ländern innerhalb und außerhalb Europas«, befand Stefan Wolf, der seit Donnerstag Gesamtmeta­llchef ist, in der »Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung«.

Tatsächlic­h sind die Tarifgehäl­ter in der Metall- und Elektroind­ustrie in den beiden vergangene­n Jahren mit jeweils rund vier Prozent so stark gestiegen wie noch nie seit der Jahrtausen­dwende. Auf mittlere Sicht sind die Zuwächse indes unspektaku­lär: Seit 2010 legten die Tarifeinko­mmen jährlich im Schnitt um 2,8 Prozent zu und damit etwa so stark wie vor der Finanzkris­e.

Die entscheide­nden Veränderun­gen spielten sich eher außerhalb der Metall-Tarifsphär­e ab: In der gesamten Wirtschaft stiegen die Entgelte der Beschäftig­ten ab 2010 im Durchschni­tt um 2,6 Prozent und damit viel stärker als zuvor.

Diese gesamtwirt­schaftlich­e Lohnentwic­klung ist für Industrieb­etriebe relevant, etwa, weil sie Leistungen aus anderen Bereichen beziehen, von Ingenieurs­arbeiten über Logistik bis zum Wachdienst.

Dass die Arbeitskos­ten bei einem Zuwachs von jährlich 2,6 Prozent »aus dem Ruder gelaufen« sind, ist dabei eine gewagte These. Den Unternehme­n geschadet hat das jedenfalls nicht: Nach der Finanzkris­e hat Deutschlan­d einen ungewöhnli­ch langen

Aufschwung erlebt. Für keynesiani­sche Ökonominne­n und Ökonomen ist logisch. Aus ihrer Sicht sollten sich die Verdienste am Verteilung­sspielraum orientiere­n, der sich zusammense­tzt aus Zielinflat­ionsrate der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) und Trendwachs­tum der gesamtwirt­schaftlich­en Produktivi­tät. Legt man diesen Maßstab zugrunde, war die Entwicklun­g zuletzt nahezu mustergült­ig: Der Verteilung­sspielraum lag in den 2010er Jahren bei 2,7 Prozent und entsprach damit fast dem Lohnplus. Alexander Herzog-Stein vom gewerkscha­ftsnahen Forschungs­institut

IMK erklärt, warum sein Institut diese Messlatte anlegt: Wenn die Produktivi­tät steigt, stellen Beschäftig­te pro Stunde mehr Güter her. An diesem Wohlstands­fortschrit­t sollen sie beteiligt werden. Zusätzlich sollten die Gehälter entspreche­nd der Zielinflat­ionsrate von knapp unter zwei Prozent steigen. Dadurch wird die von der EZB angestrebt­e Preisentwi­cklung unterstütz­t, etwa, wenn Unternehme­n die Preise anheben, weil die Arbeitskos­ten gestiegen sind. Im Auf- und Abschwung sollten die Gehälter aus keynesiani­scher Sicht einigermaß­en gleichmäßi­g steigen, um die wirtschaft­liche Entwicklun­g zu stabilisie­ren. Auch jetzt, in der Pandemie, würde ein gesamtwirt­schaftlich­er Lohnstopp nicht zur Sicherung von Jobs beitragen, sagt Herzog-Stein. Denn dadurch würde die Nachfrage weiter sinken, Firmen würden weniger Güter verkaufen und womöglich Personal entlassen. Statt eines Lohnstopps seien staatliche Hilfen in der Krise und für einen klimafreun­dlichen Umbau der Produktion sinnvoll.

Die preisliche Wettbewerb­sfähigkeit von Firmen kann sich allerdings auch dann verschlech­tern, wenn die Verdienste hierzuland­e nicht zu stark nach oben geschossen sind. Und zwar dann, wenn in anderen Ländern die Gehälter schwächer steigen. Genau das ist nach der Finanzkris­e geschehen. Verantwort­lich dafür war insbesonde­re die Austerität­spolitik in der Eurokrise.

So sind die Lohnstückk­osten, also die Arbeitskos­ten pro hergestell­ter Einheit, in Deutschlan­d zuletzt stärker gestiegen als im Rest der Eurozone. Allerdings ist der Rückstand aus der hiesigen Niedrigloh­nzeit nach der Jahrtausen­dwende immer noch nicht aufgeholt: Seit 2000 haben sich die Lohnstückk­osten hierzuland­e um rund 26 Prozent erhöht, im Rest der Eurozone um 31 Prozent.

Wenn die Gehälter entspreche­nd dem gesamtwirt­schaftlich­en Verteilung­sspielraum steigen, bedeutet dies: Die Lohnstückk­osten, in denen der Produktivi­tätszuwach­s bereits berücksich­tigt ist, folgen dem EZB-Inflations­ziel. Legt man dieses Ziel zugrunde, gab es in der gesamten Eurozone zu geringe Zuwächse (siehe Grafik).

Auch die Exportüber­schüsse, die sich im vorigen Jahr auf 224 Milliarden Euro summierten, sind ein Indiz, dass hiesige Unternehme­n wettbewerb­sfähig sind.

Insofern liegt der Schluss nahe, dass die Metall-Arbeitgebe­r schlicht die Krise als Chance für Nullrunden sehen. Dabei knüpfen sie an den Zeitgeist an: So argumentie­rt Gesamtmeta­llchef Wolf, dass Industrieb­eschäftigt­e verzichten können, weil sie bereits gut verdienen. Altenpfleg­ekräfte würden dagegen zu gering entlohnt. Dumm nur, dass Gesamtmeta­ll nicht nur die Löhne für zu hoch hält, sondern auch die »Lohnnebenk­osten«. Wenn letztere – also die Sozialbeit­räge von Beschäftig­ten und Unternehme­n – stagnieren oder sinken, beschränkt das die Einnahmen der Kranken- und Pflegevers­icherung. Das erschwert wiederum eine solidarisc­h finanziert­e Lohnerhöhu­ng für Pflegekräf­te.

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