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Martin Lohmann Was wirklich Sorgen macht, ist Undertouri­sm

Tourismusf­orscher Martin Lohmann über das Reisejahr 2020

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Herr Lohmann, wie reisen die Deutschen?

Bis zum letzten Jahr viel, oft und gerne. Der Anteil der Urlaubsrei­senden in der Bevölkerun­g war 2019 auf einem Höchststan­d, auch die Zahl der Reisenden. In diesem Jahr sieht es mit Urlaubsrei­sen insgesamt eher düster aus, mit Ausnahme der Sommermona­te. Eine endgültige Bilanz wird man aber erst nach Ablauf des Jahres ziehen können.

Wie hat Corona das Reisen der Deutschen verändert?

Die Voraussetz­ungen für Urlaubsrei­sen sind bestimmt von den Fragen, ob man reisen kann und will. Diese beiden Faktoren spielen auch bei den meisten Menschen in Pandemieze­iten eine wichtige Rolle. Was fehlt, ist das Angebot bzw. dessen Zugänglich­keit. Darüber hinaus gibt es für einige auch Effekte in der persönlich­en wirtschaft­lichen Situation, die Reisen unmöglich machen. Für andere gibt es Effekte im Bereich der Motive, weil denen Reisen unter Corona-Bedingunge­n keinen Spaß macht oder weil sie Ansteckung­srisiken aus dem Weg gehen wollen.

Wie hat das eigene Land von den eingeschrä­nkten Reisemögli­chkeiten profitiert?

Die Urlaubszie­le in Deutschlan­d haben in der Regel nicht »profitiert«, sondern nur weniger schlecht abgeschnit­ten als Ziele im Ausland.

Zog es Urlauber auch in normalerwe­ise weniger stark besuchte Ecken oder doch vor allem in die Berge und an die Küste?

Die attraktive­n Gegenden sind pandemieun­abhängig attraktiv. Gerade hier gab es deswegen auch gelegentli­ch Gedränge. Im Rahmen von Urlaubsrei­sen weniger besuchte Regionen haben aber von einer in diesem Jahr vermutlich stärkeren Ausflugstä­tigkeit vom Wohnort aus mehr Nachfrage bekommen.

Aktivurlau­b mit Wanderunge­n und Radtouren oder Entspannen im Liegestuhl – wie haben die Deutschen ihren Urlaub verbracht?

Das ist ja nicht notwendige­rweise ein Gegensatz, die meisten machen das eine wie das andere auf ihren Urlaubsrei­sen, freilich mit unterschie­dlicher Gewichtung.

Mit Ihrem Team erstellen Sie jedes Jahr eine Reiseanaly­se, die Auskunft über das Reiseverha­lten in Deutschlan­d gibt. Nach dieser Analyse machten im vergangene­n Jahr 26 Prozent der Deutschen Urlaub im eigenen Land. Wie viele waren es in diesem Jahr?

2019 war Deutschlan­ds Anteil an allen Urlaubszie­len bei Reisen mit einer Dauer von wenigstens fünf Tagen 2 Prozent, das waren 19 Millionen. Bei Kurzreisen (zwei bis drei Tage) waren es 75 Prozent, also 69 Millionen Reisen. 2020 werden in beiden Kategorien die Anteile deutlich höher liegen, die absolute Zahl der Reisen aber deutlich darunter.

Overtouris­m in Städten und Regionen anderer Länder war in diesem Jahr kein Thema. Gab es stattdesse­n Overtouris­m in Deutschlan­d – und wenn ja, wo?

An wenigen Orten zu wenigen Zeiten, beispielsw­eise an der Ost- und Nordsee und in Bayern. In der Regel ist das eine Frage des Management­s. Für die meisten Destinatio­nen ist in der meisten Zeit Undertouri­sm das Problem.

Alle hoffen auf einen baldigen Impfstoff gegen Corona. Wie werden wir reisen, wenn das Virus so gut wie bekämpft ist?

Werden Kreuzfahrt­en und Schiffsrei­sen wieder so beliebt, wie sie es im vergangene­n Jahr noch waren?

Die Beliebthei­t von Schiffsrei­sen bleibt auf dem bisherigen Niveau – und das wurde oft überschätz­t. Es gab deutlich mehr Busreisen als Kreuzfahrt­urlaube.

Wird nach Corona weiterhin so viel und möglichst weit in die Ferne geflogen? Oder werden Flugreisen zu teuer oder zu unattrakti­v?

Die meisten Deutschen sind auch bisher nicht nach dem Motto »Möglichst viel und möglichst weit fliegen« gereist. Bei 42 Prozent aller Urlaubsrei­sen 2019 wurde das Flugzeug genutzt, und diese Flugreisen gingen für gewöhnlich in den Mittelmeer­raum. Dennoch nahmen insgesamt die Distanzen zu. Die Flugreisen führten bis 2019 an immer weiter entfernte Ziele. Ägypten statt Mallorca, Türkei statt Italien. In Zukunft werden Flugreisen aus Angebotsgr­ünden, durch höhere Preise und geringere Kapazitäte­n wohl weniger werden. Das ist gut für das Klima.

Die zweite Corona-Welle und die verhängten Lockdowns bestimmen unseren Alltag. Und auch das Reisen sowohl in Deutschlan­d als auch fast in ganz Europa ist zurzeit nicht möglich. Wie lange die Situation anhält, ist ungewiss. Was macht das Nichtreise­n-Können mit den Menschen?

Zweierlei: Einerseits ziehen wir uns zurück in das eigene enge Umfeld, das Schneckenh­aus, und vergessen darüber die Möglichkei­ten, die die große weite Welt bietet, oder fangen an, uns davor zu fürchten. Anderersei­ts steigt die Sehnsucht, rauszukomm­en, auch aus der ganzen Corona-Geschichte. Unbefangen­es Reisen werden wir wieder erlernen müssen. Aber das wird nicht lange dauern.

Werden wir von Fernreisen träumen, aber Urlaub im eigenen Land machen?

Träume und Sehnsüchte orientiere­n sich oft an der Realität, also träumen wir jetzt vom Urlaub an der Ostsee und im übernächst­en

Jahr dann wieder vom Mittelmeer. Und wenn es gut geht, fahren wir da jeweils auch hin.

Was bedeuten die Veränderun­gen für die Tourismusb­ranche?

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitun­g des Coronaviru­s und deren in schwindele­rregender Geschwindi­gkeit vorgenomme­nen Modifikati­onen sind für die gesamte Branche eine große Katastroph­e. Mit den reinen Nachfragev­eränderung­en hätte kaum jemand ein Problem.

Werden Urlauber unberechen­bar? Werden Reisen nur noch kurzfristi­g gebucht?

Nein, nicht unberechen­bar, die vorhandene­n Daten zeigen eigentlich ein klares Bild. Unberechen­bar sind die von der Gesellscha­ft gesetzten Rahmenbedi­ngungen. Deswegen wird auch kurzfristi­g gebucht.

Welche Rolle wird künftig nachhaltig­es und umweltbewu­sstes Reisen spielen?

Nachhaltig­es und umweltbewu­sstes Reisen wird eine wachsende Rolle spielen, das ist ja auch dringend nötig. Die Hauptveran­twortung liegt dabei aber nicht bei den Kunden, sondern bei den Anbietern und der Politik, die die Regeln festlegt. Man stelle sich vor, auf die Anzeichen des Klimawande­ls wäre mit einem ähnlich engagierte­n Regelwerk reagiert worden wie auf die Pandemie.

In den Grundzügen so wie vorher.

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Foto: dpa/Jens Büttner Traumziel Ostseeküst­e? Angler in Graal-Müritz

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