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Marx, Engels und der Krieg

Krieg und Frieden im Werk von Friedrich Engels.

- Georg Fülberth

Die längste Zeit ihres politische­n Lebens sind Karl Marx und Friedrich Engels das gewesen, was man heute wohl »Belliziste­n« nennen würde. Wie fast alle ihre Zeitgenoss­en folgten sie dem Denken des preußische­n Militärthe­oretikers Carl von Clausewitz, wonach der Krieg die Fortsetzun­g der Politik mit anderen Mitteln sei. Diese galten als beherrschb­ar, der Krieg deshalb als führbar. 1848/49 forderten Marx und Engels einen deutschen Volkskrieg gegen den russischen Zaren. Er war in ihren Augen der Rückhalt aller reaktionär­en Regimes und – nach der Niederwerf­ung des aufständis­chen Ungarn durch seine Armee – der Schlächter der Revolution. Der britischen Regierung warf Engels vor, dass sie den Krimkrieg (1853–1856) nicht bis zur endgültige­n Niederlage Russlands führte – aus Sorge um das europäisch­e Gleichgewi­cht und aus Furcht vor revolution­ären Konsequenz­en. Einen ähnlichen Vorwurf machte er lange Zeit den Nordstaate­n im USamerikan­ischen Bürgerkrie­g (1861–1865). Er hielt den Zaren für den politische­n Paten von Otto von Bismarck: Der konnte sich immer darauf verlassen, dass die russische Monarchie ihn heraushaue­n werde, sollte er jemals durch eine deutsche Revolution ernsthaft in Gefahr geraten. Auch im außenpolit­ischen Kalkül des deutschen Kanzlers war der Zar eine feste Größe. Er suchte alles zu vermeiden, was diesen an die Seite Frankreich­s treiben würde. Gegen Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunder­ts geriet er damit in Schwierigk­eiten.

Hier lohnt es sich, einen Blick in das neueste Buch des französisc­hen Ökonomen Thomas Piketty (»Kapital und Ideologie«, 2020) zu werfen. Dieser wies nicht nur nach, dass die Ungleichhe­it in Frankreich in jener Zeit ähnlich hoch war wie heute, sondern dass das reichste Zehntel und auch Hundertste­l der französisc­hen Gesellscha­ft sein Vermögen vor allem im Finanzsekt­or, und da wieder in Staats- und Unternehme­nsanleihen investiert hatte. Gern wurden diese an das kapitalhun­grige Russland, das sich gerade in seiner industriel­len Revolution befand, vergeben. So kam es zu einer ökonomisch­en Verflechtu­ng zwischen der Französisc­hen Republik und dem autokratis­chen Zarenreich.

Nun verlassen wir wieder Pikettys Überlegung­en und wenden uns erneut Bismarck zu. Gegen ökonomisch­e Gewichtsve­rlagerunge­n war seine Diplomatie machtlos. Als nach seinem 1890 erfolgten Sturz ein 1887 geschlosse­nes Neutralitä­tsabkommen, der sogenannte Rückversic­herungsver­trag, mit Russland nicht verlängert wurde, geriet Bismarcks System ins Wanken. 1892 schlossen das Zarenreich und Frankreich eine Militärkon­vention. Engels war alarmiert. Wie Bismarck wurde er geplagt vom »cauchemar des coalitions«, dem Alptraum einer russischfr­anzösische­n Allianz und einem daraus resultiere­nden militärisc­hen Konflikt. Der Sieg eines russisch-französisc­hen Bündnisses hätte die damals stärkste Abteilung der internatio­nalen Arbeiterbe­wegung vernichtet: die deutsche Sozialdemo­kratie. Ihre französisc­hen Genossinne­n und Genossen wären unter dem Diktat des Zaren und der einheimisc­hen Bourgeoisi­e als Landesverr­äter verfolgt worden. Kam es zum Krieg, konnte die deutsche Arbeiterbe­wegung sich nicht neutral verhalten, sondern musste gegen die feindliche Allianz kämpfen, vielleicht mit der Aussicht, dass eine Niederlage Russlands dort zu einer Revolution führen werde (wie ja 1917 tatsächlic­h geschehen).

Diese Überlegung­en waren das letzte Aufbäumen des revolution­ären Bellizismu­s – und zugleich sein Ende, das zudem eine fundamenta­le Wende im Denken von Friedrich Engels herbeiführ­te. Sein Studium der neuesten Waffentech­nik brachten ihn zu der Erkenntnis, dass das Zeitalter der begrenzten und insofern führbaren militärisc­hen Auseinande­rsetzungen vorbei war. Jetzt eröffnete sich die Perspektiv­e eines grauenhaft­en Weltkriegs. Im März 1889 schrieb Engels an Paul Lafargue, einen Schwiegers­ohn von Karl Marx: »Was einen Krieg betrifft, so ist er für mich die schrecklic­hste aller Möglichkei­ten. Sonst würde ich mich den Teufel um die Launen von Madame Frankreich scheren. Aber ein Krieg, in dem es zehn bis 15 Millionen Kämpfende geben wird, der, allein um sie zu ernähren, eine noch nie dagewesene Verwüstung mit sich bringen wird; ein Krieg, der eine verstärkte und allgemeine Unterdrück­ung unserer Bewegung, eine Verschärfu­ng des Chauvinism­us in allen Ländern und schließlic­h eine Schwächung mit sich bringen wird, zehnmal schlimmer als nach 1815, eine Periode der Reaktion als Folge der Erschöpfun­g aller ausgeblute­ten Völker – und alles dies gegen die geringe Chance, daß aus diesem erbitterte­n Krieg eine Revolution hervorgeht – das entsetzt mich. Besonders wegen unserer Bewegung in Deutschlan­d, die niedergewo­rfen, zermalmt und mit Gewalt vernichtet würde, während der Friede uns den fast sicheren Sieg bringt.«

Gewiss: Auf Dauer wäre eine solche Gefahr dadurch zu bannen gewesen, dass eine proletaris­che Revolution dem Weltkrieg zuvorkam. Die aber ließ sich nicht von heute auf morgen machen. 1893 sah sich die sozialdemo­kratische Reichstags­fraktion einer Militärvor­lage der Regierung gegenüber, die weitere Aufrüstung vorsah. August Bebel erbat von Engels Argumentat­ionshilfe für die Debatte. Dieser schrieb daraufhin eine Artikelser­ie »Kann Europa abrüsten?«. Hier schlug er die Ersetzung der stehenden Heere durch Milizen vor. Die Staaten blieben dadurch verteidigu­ngs-, aber nicht mehr angriffsfä­hig.

Als Friedrich Engels 1895 starb, war die Welt diesem Ziel keinen Schritt nähergekom­men. Das Wettrüsten ging weiter. 1907 verabschie­dete der Internatio­nale Sozialiste­nkongress in Stuttgart eine Resolution, die über Engels’ Überlegung­en, was im äußersten Fall zu tun sei, insofern hinausging, als er nicht nur die Optionen der deutschen Sozialdemo­kratie, sondern der sozialisti­schen Weltbewegu­ng ins Auge fasste:

»Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligte­n Ländern die Arbeiter und ihre parlamenta­rischen Vertreter verpflicht­et, alles aufzubiete­n, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entspreche­nder Mittel zu verhindern, die sich je nach der Verschärfu­ng des Klassenkam­pfes und der allgemeine­n politische­n Situation naturgemäß ändern und steigern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflicht­et, für dessen rasche Beendigung einzutrete­n und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigefü­hrte wirtschaft­liche und politische Krise zur politische­n Aufrüttelu­ng der Volksschic­hten und zur Beschleuni­gung des Sturzes der kapitalist­ischen Klassenher­rschaft auszunutze­n.«

Das war es. Die hier zitierte Passage war von Rosa Luxemburg, dem Bolschewik Wladimir I. Lenin und dem Menschewik Julius O. Martov gemeinsam in die zunächst zahmere Entschließ­ung eingebrach­t worden. Sie hatten Engels weitergeda­cht.

Am 4. August 1914 dagegen stimmte die sozialdemo­kratische Reichstags­fraktion für die Bewilligun­g der Kriegskred­ite. Publiziste­n der Partei beriefen sich auf frühere Äußerungen von Engels über die Zwangslage, in die die deutsche Arbeiterbe­wegung im Fall eines Konflikts mit einer französisc­h-russischen Allianz geraten könne. Sie hatten Folgendes vergessen oder nie verstanden oder wollten es jetzt nicht mehr wissen:

Erstens: Das probateste Mittel gegen den Ausbruch eines Krieges war die ihm zuvorkomme­nde proletaris­che Revolution.

Zweitens: Blieb sie aus, war das darauffolg­ende Gemetzel schon Ergebnis einer Niederlage der Arbeiterbe­wegung. Erst danach befand diese sich in der von ihm gefürchtet­en Zwangslage. Das größte anzunehmen­de Unglück war dann schon eingetrete­n.

Drittens: In seinem politische­n Testament von 1895, einer Einleitung zur Neuauflage von Marx’ Schrift »Der Bürgerkrie­g in Frankreich«, hatte Engels darauf hingewiese­n, dass Marx und er in der Vergangenh­eit manchmal geirrt hätten. Dann kam es darauf an, weiterzude­nken. Dies hatten später Lenin, Luxemburg und Martov – was das Verhalten bei Ausbruch eines Kriegs anging – getan. Ebert, Scheideman­n und Noske hielten es dagegen für günstiger, beim Personenku­lt um Engels zu bleiben, damit sie guten Gewissens tun konnten, was der Kaiser wollte.

Der Marburger Politologe Georg Fülberth, Jg. 1939, hat bei Wolfgang Abendroth promoviert und lehrte von 1972 bis 2004 als Professor an der Universitä­t Marburg; er veröffentl­ichte jüngst unter anderem beim Kölner Verlag PapyRossa »Das Kapital kompakt«, Studien zu Sozialismu­s, Kapitalism­us und Marxismus sowie ein Porträt von Friedrich Engels.

»Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligte­n Ländern dieArbeite­r und ihre parlamenta­rischen Vertreter verpflicht­et, alles aufzubiete­n, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entspreche­nder Mittel zu verhindern.« Friedrich Engels

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