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Nur Corona hält die Menschen ab, auf die Straße zu gehen

Ein halbes Jahr vor den Präsidents­chaftswahl­en ist die Wut im Iran groß, Hoffnung auf Veränderun­g gibt es kaum

- OMID REZAEE

Vor einem Jahr sorgte eine Benzinprei­serhöhung für eine Protestwel­le. Die Gewalt, mit der der Staat reagierte, hat viele im Iran desillusio­niert.

Die Präsidents­chaftswahl­en im Iran rücken näher. Die sogenannte­n Reformer versuchen, die Bevölkerun­g zu überzeugen, sich an den Wahlen im Juni kommenden Jahres zu beteiligen. Doch ein Jahr nach der Protestwel­le im November 2019 scheint die iranische Gesellscha­ft an einem Punkt angekommen zu sein, an dem es kein zurück gibt – von Hoffnung auf die Wahlen ist keine Spur vorhanden.

Saeed, eine 29- jährige Sozial wissen schafts studentin in Teheran, die in Wirklichke­it anders heißt, beschreibt die Lage: »Nach dem, was wir vor einem Jahr gesehen haben, kann man nicht mehr Hoffnung auf eine Änderung durch die Wahlen setzen, oder auch nur auf jegliche Art Änderung innerhalb dieses Systems.« Sie blickt auf den landesweit­en Aufstand vom letzten Jahr zurück und beschreibt das, was sie erlebt hat, als »unvergessl­ich«. Mitte November 2019, als Tausende Iraner*innen auf die Straße gegangen sind, umge gen dieVerd reif achungdesB­renn stoff preises zu protestier­en, reagierte der Gottes staat mit einer Gewalt, die selbst für Verhältnis­se der Islamische­n Republik ohnegleich­en waren. Währendes bis zum heutigen Zeitpunkt keine offizielle­n Angaben über die Zahl der Toten gibt, berichtete die amerikanis­che Nachrichte­nagentur Reuters von 1500 Todesfälle­n; Amnesty Internatio­nal hat über 400 Fälle dokumentie­rt.

Damals wurde das Internet im ganzen Land abgeschalt­et und so die Verbindung fast aller Iraner*innen mit der Außenwelt abgebroche­n. Die Maßnahme hat es dem Staat leichter gemacht, Gewalt anzuwenden und die Demonstran­t* innen zu erschießen. Saeedebe schreibt esso :» Mir haben die staatliche­n Maßnahmen verständli­ch gemacht, dass dieses Regime in der Lage ist, uns in dem Land einzusperr­en und einen Massenmord zu begehen, ohne dass die Welt davon erfährt, zumindest nicht rechtzeiti­g.«

Dass der Gottesstaa­t gegenüber Dissidente­n zu Gewalt neigt, ist nichts Neues. Das kennen linke Gruppen aus den 1980er Jahren sowie die religiösen und ethnischen Minderheit­en. Aber mit den Vorgängen des vergangene­n Jahres wurde das auch der Mehrheit der Iraner*innen bekannt, die vielleicht bis dahin keine unmittelba­re Erfahrung damit hatten.

Nicht nur mit Blick auf die Gewalt waren die Proteste gegen Benzinprei­serhöhung anders als vorherige Protestwel­len. Auch die Orte der Proteste waren neu: Schauplätz­e waren vor allem Kleinstädt­e sowie die Vorstädte der Metropolen. Dort, wo Pendler leben, die täglich in die nächste größere Stadt zur Arbeit fahren, die meisten mit eigenen Autos – im Iran fehlt noch immer die Infrastruk­tur eines bezahlbare­n öffentlich­en Verkehrssy­stems. Hat man kein eigenes Auto, muss man Sammeltaxi­s benutzen, für die man einen beträchtli­chen Teil seiner Einkünfte ausgeben soll. Damit traf die Benzinprei­serhöhung die Unterdrück­ten, die sich bis dahin weder von den sogenannte­n Reformern noch von der Opposition repräsenti­ert fühlen.

Doch das hat sich geändert, sagt Firoozeh Farvardin, iranische Sozialfors­cherin an der Humboldt-Universitä­t in Berlin, die sich mit Aufständen und sozialen Bewegungen im Nahen Osten auseinande­rsetzt: »Diese unsichtbar­en Menschen haben sich anhand dieser Proteste zum Diskurs derjenigen gedrängt, die mit der Politik der Islamische­n Republik unzufriede­n sind.« Seitdem würden ihre Forderunge­n und ihre Lage von den Regimekrit­iker*innen in Erwägung gezogen.

Gleichzeit­ig verliert diese Behauptung des iranischen Staates, dass er »die Unterdrück­ten« repräsenti­ere, an Glaubwürdi­gkeit:

»In Sachen Freiheit und Demokratie hält die Islamische Republik nicht viel von sich. Aber wenn es um arme, unterdrück­te Leute geht, versucht der Staat, sich als Stellvertr­eter dieser auf aller Welt auszugeben.« Farvardin meint, dass dies nicht mehr funktionie­ren scheint.

Farvardin bezeichnet noch zwei Besonderhe­iten für diesen Aufstand: Sie seien deutlich von den Initiative­n der Proteste in der Region geprägt, und sie wurden von keiner bestimmten, bekannten Figur vertreten. Was Vor- und Nachteile hat: »Es waren viele Körper, aber im Gegensatz zu den massiven Protestwel­len im Jahr 2009 gab es keinen Kopf, der diese Körper repräsenti­ert. Es ist für den Staat einfacher, diese Körper niederzusc­hlagen, zu inhaftiere­n, hinzuricht­en. Auf der anderen Seite reproduzie­ren sich diese Körper und es gibt keine Spitze, die der Staat vernichtet und dann ist es vorbei.«

Während sich keiner der Wünsche der Protestier­enden erfüllt hat, und während sich die Lebensumst­ände der Unter- und Mittelschi­cht wegen der US-Sanktionen und der Misswirtsc­haft noch weiter verschlimm­ert haben, halten viele Beobachter*innen es für wahrschein­lich, dass mit dem nächsten Anlass diese Menschen wieder auf die Straße gehen werden. Die Teheraner Studentin Saeede bezeichnet die im ganzen Land schlimm wütende Corona-Pandemie als das Einzige, das die Menschen im Iran davon abhält, ihre Wut zu äußern.

Die Sozialwiss­enschaftle­rin Farvardin meint, dass wenn die Novemberpr­oteste eine Folge haben, dann die, dass viele nicht in die Vergangenh­eit zurückkehr­en wollen. »Viele können sich es nicht mehr vorstellen, dass es eine Zeit in der Islamische­n Republik gegeben hat, zu der man zurück will. Man will seitdem nur nach vorne schauen. Das kann zu einer Art Passivität und Hoffnungsl­osigkeit führen, oder zu Mut und Motivation zur radikalen Veränderun­g.«

»Nach dem, was wir vor einem Jahr gesehen haben, kann man nicht mehr Hoffnung auf eine Änderung durch die Wahlen setzen.« Saeede Studentin aus Teheran

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