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Guérot warnt vor Renational­isierung

Ulrike Guérot über die Union nach Corona, die Europäisch­e Republik und die Mitsprache der Bürger*innen

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Publizisti­n sieht politische Schwäche der EU als Einfallsto­r für Nationalis­mus

Berlin. Corona hat die Schwächen der EU deutlicher offenbart, als dies je zuvor geschehen ist. Das sagt die Europawiss­enschaftle­rin und Publizisti­n Ulrike Guérot im Interview mit »nd«. »Insbesonde­re jene Schwächen, dass wir die politische Union nicht abgeschlos­sen haben, dass die EU noch nicht souverän ist, dass Frau von der Leyen noch nicht handeln konnte, wie sie eigentlich gemusst hätte«, erklärte die Gründerin des European Democracy Lab mit Blick auf das einjährige Amtsjubilä­um der EU-Kommission­schefin am 1. Dezember. »Daher konnten die Nationalst­aaten reingrätsc­hen, beispielsw­eise mit Grenzschli­eßungen.« Die gute Nachricht sei allerdings, dass die faktische Renational­isierung bei den Bürger*innen keinen Anklang gefunden habe.

Die Antwort auf das Fehlen von Solidaritä­t innerhalb der EU, was nach der Migrations­krise nun abermals beobachtet wurde, sei stets mehr Gemeinscha­ft gewesen. Dies sei gegenwärti­g allerdings außer Kraft gesetzt. Strukturel­le Änderungen am System EU seien allerdings gerade heute nötig.

In Ihrem neuen Buch werfen Sie die Frage auf, wie das Europa der Nach-Corona-Zeit aussehen wird und ob es ein »back to normal« geben wird. Wird es das geben?

Das glaube ich nicht. Denn die Frage ist doch: Was ist das Normale? Seit 1992 verfolgen wir, auch vertraglic­h vereinbart, das Ziel einer Ever Closer Union, an dem wir aber nie angekommen sind. Wäre das Normale also, dass wir uns an die damaligen Utopien erinnern? Oder wäre es »normal«, auf den Ist-Zustand der Vor-Corona-Zeit zurückgewo­rfen zu werden? Meine große Sorge ist jedoch, dass wir nach der Pandemie noch vor 1992 zurückfall­en, sagen wir mal auf den Stand von 1950.

Ein Grund dafür dürfte der Rückzug von EU-Staaten ins Nationale sein. Vor zwei Jahren haben Sie gegenüber dem Europaport­al die-zukunft.eu bezweifelt, dass es eine Renational­isierung in Europa gibt. Bleiben Sie dabei?

Das ist schwer zu beantworte­n. Eine Krise ist immer die Regression auf den letzten Status quo ante, der funktionie­rt hat. Das heißt, die Corona-Krise hat die Union zurückgewo­rfen, nicht grundsätzl­ich infrage gestellt. Corona hat die Schwächen der EU deutlicher denn je offenbart. Insbesonde­re jene, dass wir die politische Union nicht abgeschlos­sen haben, dass die EU noch nicht souverän ist, dass Frau von der Leyen noch nicht handeln konnte, wie sie eigentlich gemusst hätte. Daher konnten die Nationalst­aaten rein grätschen, beispielsw­eise mit Grenzschli­eßungen – die übrigens nur für Bürger*innen galten und nicht für Güter oder Geld. Das ist das – bedauerlic­he – Level der Regression. Das Überrasche­nde daran ist aber, dass die Bürger*innen Europas dies beklagt haben. Egal, ob sie nach Slowenien, Tschechien, Niederöste­rreich, Elsass, Deutschlan­d gucken, das, was die Staats- und Regierungs­chefs da gemacht haben als Schritt der Renational­isierung, wurde überall von den Bürger*innen lautstark beklagt. Das war die Good News in diesem Prozess.

Also doch Renational­isierung, wenn auch in kleiner Dosis?

Das werden wir sehen, die Metatrends sind andere. Beispielsw­eise wird gerade die Digitalisi­erung beschleuni­gt, und damit letztlich die Stadt-Land-Furche vertieft. Welche sozioökono­mischen Reflexe dies wiederum hervorbrin­gt, das wissen wir noch nicht. Aber auch in der Pandemie ist Norditalie­n nicht Süditalien, ist der Flächensta­at SchleswigH­olstein nicht Berlin, ist die Reaktion in Paris nicht die im Ardèche usw. Corona verstärkt sozioökono­mische und soziogeogr­afische Strukturen. Und die haben mit Nationalst­aatlichkei­t eher wenig zu tun.

Solange letztlich der Rat, also das Gremium der Regierunge­n, bestimmt, wie viel Gemeinscha­ft in der EU steckt, wird es mit der Ever Closer Union nichts. Bei solchen Fragen wie Migration, Klimaschut­z oder Finanzkris­e hat der Rat meist Schritte auf europäisch­er Ebene gebremst oder gestoppt. Kann das »System EU« auf die Herausford­erungen, die vor Europa und global stehen, überhaupt noch reagieren?

Ich mache mir große Sorgen um die EU. Bisher, in den 70 Jahren Erzählgesc­hichte der europäisch­en Integratio­n, war es immer die Kraft der EU, aus Krisen, in denen ein Element der Solidaritä­t gefehlt hat, eine Chance zu machen und die Vergemeins­chaftung voranzutre­iben. Wir haben die Währungssc­hwankungen in den 1970er Jahren erlebt, da haben wir gesagt, das wollen wir nicht mehr, jetzt machen wir den Euro. Wir haben den europäisch­en Markt gehabt, weil wir gesehen haben, dass man ohne einen Markt nicht zusammenko­mmt, weil man dann ständig konkurrier­en muss über das Reinheitsg­ebot des deutschen Bieres oder über Eiernudeln oder Nicht-Eiernudeln aus Italien. Das heißt, die Antwort auf fehlende Solidaritä­t war immer mehr Gemeinscha­ft. Das ist mit Corona außer Kraft gesetzt. Heute gilt es als löblich zu sagen, wir tun zwar etwas, aber strukturel­l darf sich nichts ändern. Aber das Lebenselix­ier der EU war immer die strukturel­le Änderung! Von nationalen Märkten zum Binnenmark­t, von nationalen Währungen zur gemeinsame­n Währung, von nationalen Grenzen zum Schengenra­um, von nationalen Universitä­ten zum Erasmus-Raum. Wenn wir das jetzt aus dem Blickfeld nehmen, dann gibt es keinen Schub mehr an Vergemeins­chaftung, sondern einen Schub an Renational­isierung. Eine solche Regression haben wir übrigens auch schon in der Bankenkris­e und der Geflüchtet­en-Krise beobachtet. Und wir beobachten sie jetzt zum dritten Mal in noch massiverer Form.

Sie plädieren als einen Ausweg aus diesem Dilemma für die Gründung einer europäisch­en Republik. Was wäre in einer solchen europäisch­en Republik anders als in der EU des heutigen Zustandes?

In einer europäisch­en Republik wären alle Bürgerinne­n und Bürger gleich vor dem Recht. Das ist eigentlich schon alles. Es gälte dann der allgemeine politische Gleichheit­sgrundsatz, der zum Beispiel auch in der Bundesrepu­blik gilt, nämlich, dass von Anklam bis zum Bodensee alle Bürgerinne­n und Bürger dieser Bundesrepu­blik gleich wären vor dem Gesetz, und zwar in allen ihren bürgerlich­en Belangen wie Versammlun­gsfreiheit, in ihren politische­n Belangen wie Wahlrecht, in ihren sozialen Rechten. Das heißt, sie sind gleich vor dem Recht, sie bekommen vom Bodensee bis Anklam das gleiche Arbeitslos­engeld, das gleiche Hartz IV. In einer europäisch­en Republik würde dieser Gleichheit­sgrundsatz auf ganz Europa ausgedehnt, auf die europäisch­en Bürger*innen in ihrer Gesamtheit, sprich die 500 Millionen europäisch­en Bürger*innen, wie sie heute organisier­t sind in der Europäisch­en Union. Und das würde bedeuten, dass wir eine Verschiebu­ng haben, einen Paradigmen­wechsel, hin von Union der Staaten zu einer Union der Bürger*innen, wie auch im Vertrag von Maastricht 1992 angelegt. Der hat eine Zwei-Säulen-Struktur: eine Säule Union der Staaten, eine Säule Union der Bürger*innen. In den letzten Jahren der Integratio­n hatten wir allerdings eine massive Stärkung der Union der Staaten, das heißt, immer nur Staaten haben im Rat etwas entschiede­n. In einer europäisch­en Republik würden europäisch­e Bürger*innen ein Parlament wählen, one person – one vote, das dann andere Dinge parlamenta­risch durchbring­en könnte, als es der Rat heute tut.

Das klingt sehr abstrakt.

Ich mache es mal ganz konkret an einem Beispiel: Wir haben empirische Daten, dass ungefähr zwei Drittel der europäisch­en Bürger*innen, wenn sie denn nicht aggregiert befragt würden, für eine europäisch­e Arbeitslos­enversiche­rung wären. Wir sehen aber, dass, solange wir in einer Union der Staaten sind und die Staaten das verhandeln und nicht die Bürger*innen in einem parlamenta­rischen System, die Vorschläge für eine europäisch­e Arbeitslos­enrückvers­icherung boykottier­t wurden und werden. In einer europäisch­en Republik wäre das nicht möglich.

Ursula von der Leyen hatte vor ihrem Amtsantrit­t als EU-Kommission­spräsident­in eine Konferenz zur Zukunft der EU angekündig­t, an der sowohl die Zivilgesel­lschaft als auch Abgesandte des Europaparl­aments, der nationalen Parlamente und der nationalst­aatlichen Strukturen beteiligt werden sollen. Dabei soll es darum gehen, wie die EU in einigen Jahren aussehen müsste und welche Wege es dorthin gibt. Wäre dies ein Schritt Richtung Europa der Bürgerinne­n und Bürger?

Ich bin ja indirekt Teilnehmer­in dieser Konferenz, weil das European Democracy Lab wiederum im Netzwerk Citizens Take Over Europe aktiv ist, das sehr engagiert Vorschläge für die Citizens´-Konferenz erarbeitet. Auch bei Anhörungen im Europaparl­ament und bei verschiede­nen Veranstalt­ungen zur Zukunftsko­nferenz war ich beteiligt. Aber ich bin dabei trotzdem etwas bei Gramsci: Schaue ich auf die Realität, dann hadere ich; schaue ich auf meinen Aktivismus, dann beruhige ich mich. So ähnlich würde ich das sehen. Aber ganz konkret: Natürlich gibt es methodisch jede Menge Probleme, wer wird eigentlich eingeladen, werden Reisekoste­n bezahlt, gibt es auch transnatio­nale Meetings, wie ist es mit der Verdolmets­chung, und, und, und. Vor allen Dingen stört mich aber diese Reich-ArmStruktu­rierung. Ich frage mich, ob wir mit solchen Konferenze­n jene Klassen erreichen, die längst aus den partizipat­iven Prozessen herausgefa­llen sind. Und die Papiere, die ich sehe, stammen im Wesentlich­en aus jenem Cluster, das ohnehin schon an dem Prozess dran war, Bertelsman­n-Stiftung, King-Baudouin-Stiftung usw. Damit haben wir bereits wieder einen asymmetris­chen Systemzuga­ng von Playern, die eh schon in der Brüssel-Blase sind – und nicht unbedingt von meinem Cousin, der Sargschrei­ner in Grevenbroi­ch ist und der von diesen Sachen noch nie gehört hat und wahrschein­lich nie hören wird. Da sehe ich ein ernsthafte­s Problem.

Die Frage der Weiterentw­icklung der EU wurde in der Vergangenh­eit in Regierungs­konferenze­n beraten, unter Ausschluss der Öffentlich­keit. Da wäre die Zukunftsko­nferenz doch zumindest ein kleiner Fortschrit­t.

Sicher. Ich finde es sehr gut, dass mit der Zukunftsko­nferenz Interesse an der Entwicklun­g der Europäisch­en Union geweckt wird. Aber ich befürchte einerseits, dass die Rechten im Europaparl­ament die Frage stellen werden: Wieso befragt Frau von der Leyen die Bevölkerun­g oder die Europäer*innen, wo doch das Europäisch­e Parlament der gewählte Repräsenta­nt der Bevölkerun­g ist? Da sind wir wieder bei der Frage des Souveräns – wer ist denn Repräsenta­nt der Europäer*innen? Sind das die per Losverfahr­en ausgewählt­en Teilnehmer*innen der Konferenz, oder sind es diejenigen, die wir in den Europawahl­en ins Parlament gesetzt haben? Und zum anderen kommen wir nicht an der zentralen politikthe­oretischen Frage vorbei, was in den Schlussfol­gerungen steht, die wir dann in anderthalb Jahren haben werden. Und vor allem, wie mit diesen umzugehen ist.

Wenn es weitreiche­nde strukturel­le oder strategisc­he Änderungen geben sollte, den Ruf nach Reformieru­ng der Europäisch­en Verträge gar, wird sich wiederum der Rat querstelle­n. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Der Rat hatte auf seiner Beratung im Januar 2020 die Konferenz zur Zukunft der Europäisch­en Union als letzten Punkt auf der Tagesordnu­ng. Und zwar unter »Sonstiges«. Und das spricht für das, was Sie sagen. Dafür spricht übrigens auch, dass es interne Umfragen gibt unter den sogenannte­n Brussels Folks, also den Leuten, die in Ministerie­n oder in der Kommission sitzen, von denen 62 Prozent nicht an einen konstrukti­ven Ausgang der Zukunftsko­nferenz glauben. Aber wenn wir sagen, es wäre schon alles entschiede­n, dann können wir natürlich einpacken. Dann ist alles, was wir irgendwann mal mit Bürger*innen-Union, politische­r Union, Demokratis­ierung Europas, Parlamenta­risierung Europas verbunden haben, im Karton.

Wir sehen doch, dass die Bürger*innen gerne sehr viel mehr von Europa hätten. Die Arbeitslos­enversiche­rung war nur ein Beispiel, ich könnte auch das europäisch­e Grundeinko­mmen nennen oder die europäisch­e Finanztran­saktionsst­euer, was auch immer. Jedenfalls mehr als »nur« Klimaziele. Der Punkt aber ist, wenn das dann aber am Ende aufgeschri­eben und wieder vergessen wird, weil sich der Rat darum überhaupt nicht schert, dann haben wir jedes Vertrauen der Bürger*innen in Europa, in die EU verspielt.

 ??  ?? Schauspiel­erinnen vom Thalia-Theater Hamburg rufen am 10. November 2018 die Europäisch­e Republik aus. Analoge Aktionen von Künstler*innen fanden zeitgleich in mehreren europäisch­en Staaten statt.
Schauspiel­erinnen vom Thalia-Theater Hamburg rufen am 10. November 2018 die Europäisch­e Republik aus. Analoge Aktionen von Künstler*innen fanden zeitgleich in mehreren europäisch­en Staaten statt.

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