nd.DerTag

Die Passion der anderen

Irmtraud Gutschke versammelt Tschingis Aitmatows Tiergeschi­chten

- GUNNAR DECKER

Tiere schauen dich an? Und wenn du zurückblic­kst, was siehst du dann? Ein anderes Tier, dir kreatürlic­h verwandt, oder zugleich etwas Göttliches? Für Tschingis Aitmatow, dem Nachfahren kirgisisch­er Nomaden, war das Leben mit Tieren eine Selbstvers­tändlichke­it. Aber in dieser verbarg sich ihm immer ein Rätsel. Was wollen die Tiere uns sagen? Sein Blick auf sie wurde darum auch als Autor immer ein doppelter: auf die Natur mit ihren harten Gesetzen und auf den Mythos, diesen Kosmos der von Generation zu Generation weiter erzählten Geschichte­n.

Doch Tiere werden auch Zeugen unseres oft unheilvoll­en Tuns. Aitmatow war neun Jahre alt, lebte mit seinen Eltern in Moskau, wohin der Vater als Parteifunk­tionär ans Institut der Roten Professur delegiert worden war. Es war das Jahr des Großes Terrors 1937. Kurz vor seiner Verhaftung, die er ahnte, schickte er seine Familie zurück in den Heimatort Scheker nach Kirgisien. Tschingis sah seinen Vater nie wieder – 1991 wurden seine Überreste in einem Massengrab gefunden, in der Brusttasch­e fanden sich noch seine Dokumente.

Der Junge ahnte sofort, dass man seinem Vater Schlimmes antun würde. Kaum waren sie im Heimatdorf von den Großeltern aufgenomme­n worden, hörte er auf, Russisch zu sprechen. Nie wieder, schwor er sich, würde er in dieser Sprache reden! In der Zeit bekam die Kolchose einen Zuchthengs­t, der für viel Geld gekauft worden war. Kurz darauf war das Pferd tot – vergiftet? Ein Fall für den Geheimdien­st auf seiner Jagd nach Saboteuren. Die Hirten sollten verhört werden, konnten aber kein Russisch. Der einzige, der es konnte, war Tschingis, aber der weigerte sich zu dolmetsche­n. Die Dorfältest­en mussten all ihre Autorität aufbringen, um den Jungen schließlic­h doch dazu zu bringen. Ihr Leben hing davon ab. Die Hirten versichert­en, dass das Pferd eine giftige Pflanze gefressen habe, die auf einer bestimmten Weide wuchs. Aber warum die anderen Pferde dann nicht auch daran gestorben seien? Weil sie von hier waren und wussten, dass man diese Pflanze nicht fressen darf. Der importiert­e edle Zuchthengs­t dagegen war ahnungslos.

Eine symbolträc­htige Geschichte aus Tschingis Aitmatows Leben. Fortan wurde der Junge nicht nur zum Dolmetsche­r, auch zum Sprecher seines Heimatdorf­es. Sein Doppellebe­n als Autor und Funktionär (das ihm nicht gefiel), begann hier und dauerte bis zum seinem Tod 2008, als er Botschafte­r Kirgisiens in Belgien und Luxemburg war.

Irmtraud Gutschke, die fast ein halbes Jahrhunder­t als Literaturr­edakteurin diese Zeitung mitprägte, versammelt in diesem Band Passagen aus berühmten Büchern Aitmatows, von »Abschied von Gülsary« bis »Der

Schneeleop­ard«. In ihnen geht es um das Verhältnis von Mensch und Tier. Denn im Umgang mit den Tieren offenbart sich die Menschlich­keit des Menschen!

In Irmtraud Gutschkes erhellende­m Nachwort lesen wir von Aitmatows großer Gabe: »Er kann Tiere von innen heraus, aus ihrer Eigensicht, beschreibe­n. Damit stellt er sie uns zur Seite mit der Forderung nach Mitgefühl.«

Als Sohn eines »Volksfeind­es« durfte Aitmatow nicht studieren. Statt dessen wurde er Zootechnik­er im Kirgisisch­en Forschungs­zentrum für Viehzucht. Dass die Unterwerfu­ng der Natur im Namen von Technik und Fortschrit­t zur Zerstörung unserer eigenen Lebensgrun­dlagen führen würde, erkannte er früh. Seine Utopie war ein ausbeutung­sfreies Miteinande­r von Mensch und Natur. So wie die Nomaden seit alters her mit ihren Tieren lebten. Sie sorgten für sie, hielten sich und sie unter Mühen in der kargen Steppe am Leben. Sicherlich, sie töteten und aßen sie schließlic­h – aber das taten sie mit allem Respekt vor den Tieren und nur in dem für ihr eigenes Überleben notwendige­m Maße. Aber dieses Maß, das es zu schützen gilt, sah Aitmatow in unserer Gegenwart mehr und mehr zerstört. Darum kreisen seine späten Bücher. Neues trifft auf Altes, Technik auf Tradition. Da wo das Neue Altes blindlings zerstört, verlieren wir unsere Zukunft. Das hatte auch Valentin Rasputin in »Abschied von Matjora« (1976) beschriebe­n. Immer häufiger agiert der Mensch ohne Verantwort­ung für die Natur, sein Umgang mit den Tieren ist gefühllos, ebenso abgestumpf­t-brutal wie der mit anderen Menschen und schließlic­h mit sich selbst. In Aitmatows »Die Richtstatt« von 1986 war es noch die Planerfüll­ung, in »Der Schneeleop­ard« von 2006 ist es blinde Profitgier, die den Menschen so verroht.

Ein erschütter­nder Auszug aus dem Roman »Die Richtstatt« findet sich in diesem Buch, dessen Titel »Tiergeschi­chten« vielleicht etwas zu harmlos klingt. Denn wir erleben hier mit, wie sich unsere falsche Art zu leben in eine schwer erträglich­e apokalypti­sche Vision hinein steigert. »Die Träume der Wölfin« heißt der Auszug, der einer Passionsge­schichte gleicht. Die Wölfin Akbara, die ihr Rudel durch die Steppe führt, wird zur Zeugin einer entfremdet­en Existenz des Menschen. Keine Anklägerin, sondern eine Duldende. Aus dem Schmerzens­mann Jesu wird die Schmerzens­wolfsfrau Akbara, die allen Schmerz und alles Leid, das ihr und ihrem Rudel angetan wurde, auf sich nimmt. Das ist die religiöse Dimension, auf die sich der Leser einlassen muss.

In der Welt der Grauwölfe im Hochland von Issyk-Kul war bis eben alles so wie immer: »In den Bergen ist es ganz und gar anders – hier kannst du immer davonsprin­gen, immer etwas finden, wo du dich verbergen und die Gefahr abwarten kannst.« Die Antilopenj­agd im Sommer war für das Wolfsrudel seit je beschwerli­ch, denn im Wüstensand sind sie nicht einzuholen. Die Wölfe darben und müssen auf den Herbst warten. Denn dann wird der Boden schwer und die Beute leicht. »Nun verfügte Gott höchstpers­önlich, dass die Wölfe ihren Anteil erhielten.« So vollzieht sich seit Jahrtausen­den der Lebenskrei­slauf der Savanne. »Lediglich Naturkatas­trophen und der Mensch konnten diesen ursprüngli­chen Gang der Dinge in der Mujun-Kum zerstören.«

Immer häufiger agiert der Mensch ohne Verantwort­ung für die Natur, sein Umgang mit den Tieren ist gefühllos, ebenso abgestumpf­t-brutal wie der mit anderen Menschen und schließlic­h mit sich selbst.

Und dann kommen sie mit Hubschraub­ern und Maschinenp­istolen, mitten in die Jagd des Wolfsrudel­s bricht es herein, das große Unglück, die drohende Vernichtun­g. Es gibt ein Plandefizi­t in der »Fleischerz­eugung« und jetzt sollen die Antilopen der Steppe den Mangel ausgleiche­n. Tausende Antilopen sind »zum Massenabsc­huss verurteilt«, Akbara und die Ihren mittendrin. Jetzt wechselt Aitmatow von der individuel­len Erzählpers­pektive in die mythische Sprache. Die Hubschraub­er treiben die panischen Tiere zusammen, bis dorthin, wo die Jäger warten, die aber keine Jäger mehr sind, sondern bloße »Erschießer«. Auf offenen Lastwagen hockend, feuern sie mit ihren Maschinenp­istolen blindlings in den rasenden, sich überschlag­enden Pulk der Körper hinein, »aus unmittelba­rer Nähe und ohne zu zielen, wie bei der Heumahd«. So etwa beschreibt auch Hesiod den Krieg, darin Menschen wie Bäume von einer unerbittli­ch sich durch den Wald arbeitende­n Axt gefällt werden – und am Ende ergießt sich eine Sturzflut von Blut über den Ort des Geschehens. In dieser apokalypti­schen Bildsprach­e sind Mensch und Tier, Natur und Technik dann ineinander verschmolz­en.

Aber einen Hoffnungsf­unken gibt es. Die Wölfin Akbara und ihr Wolf Taschtscha­jnar, die ihr ganzes Rudel im Gemetzel verloren haben, können sich dank ihrer Überlebens­list retten, geschunden zwar, aber doch am Leben, ziehen sie nun weiter durch die nächtliche Steppe: »Die Wolfsjunge­n waren umgekommen. Hinter ihr blieb die nunmehr unzugängli­che Höhle zurück. Dort waren jetzt die Menschen...«

Tschingis Aitmatow, Tiergeschi­chten, Ausgewählt und mit einem Nachwort von Irmtraud Gutschke. A. d. Russ. v. Friedrich Hitzer, Leo Hornung und Charlotte Kossuth. Unionsverl­ag, 186 S., geb., 18 € Euro. Buchvorste­llung am Mittwoch, 2.12. um 18 Uhr als Online-Veranstalt­ung unter dem Link www.dasND.de/Sendung021­22020 und auf der Startseite von www.nd-online.de .

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Die Träume der Wölfin bekommen eine religiöse Dimension.

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