nd.DerTag

Die mit dem Tod tanzen

Vom Umgang mit einer Pandemie vor über 500 Jahren

- RALF STABEL

Die Kanzlerin wird nicht müde, immer wieder zu beschwören und zu mahnen, die Pandemie beträfe uns alle. Vor gut 500 Jahren hätte sie das auch sagen können, nur wäre sie dann Kaiserin oder Königin gewesen, und wir der Pest-Pandemie erheblich unwissende­r ausgeliefe­rt als heute. Dennoch gleichen sich die Szenarien des Umgangs mit dem Unglück. Was aber ist von einst künstleris­ch überliefer­t? In letzter Zeit ist bereits mehrfach auf Giovanni Boccaccios »Decameron«, eine Sammlung von 100 Novellen, hingewiese­n worden. Sie handeln von jungen Leuten, die sich 1348 in Italien, in einem Landhaus auf den Hügeln von Florenz, in Selbstquar­antäne begeben und zum Zeitvertre­ib gegenseiti­g Geschichte­n erzählen. Jeden Tag wird eine Königin oder ein König bestimmt, welcher einen Themenkrei­s vorgibt. Nach zehn Tagen und zehn mal zehn Novellen kehrt die Gruppe wieder nach Florenz zurück.

Unwissenhe­it über die Pandemie und deren rasche Verbreitun­g haben schon in Zeiten der Pest zu Party-Exzessen und zu mörderisch­en Pogromen geführt.

Auch Shakespear­e wusste 1597 das Setting geschickt zu nutzen, indem er die bekanntest­e Tragödie der Weltlitera­tur mit einem kleinen, aber wichtigen Trick inszeniert­e: Romeo erhält das Schreiben von seiner Julia, in dem sie ihm ihren Schein-Tod erläutert, aufgrund von Reisebesch­ränkungen wegen einer just wütenden Pest nicht. Dieses Detail stürzt die Liebenden in den viel zu frühen und vor allem – vor unser aller wissenden Augen stattfinde­nden – sinnlosen Tod.

Eine ebenso interessan­te Überliefer­ung im Umgang mit der damaligen Pandemie in unseren Breitengra­den sind die sogenannte­n Totentänze. Hierbei handelt es sich keinesfall­s um Tanzanleit­ungen fürs Homeoffice. Getanzt wird nur in der Imaginatio­n – doch die wird in Lebensgröß­e projiziert. So zum

Beispiel im Eingangsbe­reich der Marienkirc­he am Berliner Alexanderp­latz. Die dortige Abbildung entstand um 1470, vor 550 Jahren und ist nicht die einzige ihrer Art. Diese einst üblichen Darstellun­gen zeigen Tanzpaare, die sich aus »Gevatter Tod«, meist symbolisie­rt als Gerippe, und einer (noch) lebenden Person zusammense­tzen. Bemerkensw­ert ist: Der Tod »tanzt« mit oberster kirchliche­r und weltlicher Macht, mit allen Adels- und Berufsstän­den, mit Männern und Frauen gleicherma­ßen. Zu den Abbildunge­n gibt es kurze Texte. Der Tod lädt zum Tanz ein. Die Aufgeforde­rten wissen, was diese »Anmache« bedeutet und bitten um zeitlichen Aufschub, denn sie müssen ihre Dinge auf Erden noch ordnen, bevor sie für den letzten Tanz bereit sind.

Die Motivation­en für die Totentanz-Darstellun­gen, die man auch als frühe Comics oder Cartoons bezeichnen könnte, sind vielfältig. Einerseits ist klar, dass Ansteckung etwas mit Kontakt zu tun hat. Und selten kommt man sich so nahe wie beim Tanzen, dem präludium veneralis, dem Vorspiel zur Liebe, wie es im »Abenteuerl­ichen Simpliciss­imus« heißt. Das Tanzen war der Kirche generell ein Dorn im Auge war, ist auch klar, bedeutete es doch Lust und damit Kontrollve­rlust mit neun Monate später sichtbaren, mitunter außereheli­chen Folgen.

Anderseits haben die fehlenden Perspektiv­en bei Unwissenhe­it über und Angst vor Ansteckung schon damals zu Party-Exzessen geführt, die zu einer rascheren Verbreitun­g der Pest wie auch anderer Epidemien beitrugen. Zu den frühesten Verschwöru­ngstheorie­n gehört, dass die Pest als Strafe Gottes wegen der »Ungläubige­n« über die Menschheit gekommen sei. Es kamen gegen diese sogenannte­n Ungläubige­n, die mitunter als Tanzmeiste­r und Musiker von Ort zu Ort wanderten und daher als die eigentlich­en Überträger von Krankheite­n und Seuchen verdächtig­t wurden, zu zahlreiche­n Pogromen, Mord und Totschlag.

Vielfältig­e Vergehen wurden für den schließlic­hen Tanz mit dem Tod verantwort­lich gemacht. Dieser soll beispielsw­eise in Berlin der Kaiserin gesagt haben, er habe sie auserkoren, weil sie immer wieder neue Kleider trage und damit ein Todsünde fröne: der »Eitelkeit«. Heutige Verschwöru­ngsmythen unterschei­den sich nicht viel davon.

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Klassiker: Gevatter Tod ruft die Bürger zum Ball

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