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Das tragische Ende des Luis

Atletico Madrid hat mit dem FC Bayern noch Rechnungen offen

- SVEN GOLDMANN

Könnte mal wieder ein schönes Jahr werden für den Club Atlético de Madrid. In La Liga, wie sich Spaniens höchste Fußballkla­sse der besseren Vermarkung wegen mittlerwei­le nennt, wurde am Samstag mit einem 1:0 beim FC Valencia der sechste Sieg en suite gefeiert. Tabellenpl­atz zwei, einen Punkt hinter dem Überraschu­ngsersten San Sebastián, der zwei Spiele mehr absolviert hat. Atlético ist noch unbesiegt, aber nur in der Meistersch­aft. Im Zirkus der europäisch­en Großmächte läuft es eher mittelpräc­htig. In vier Vorrundens­pielen der Champions League sind gerade fünf Pünktchen zusammenge­kommen. Die Krise war nirgends so sichtbar wie bei der 0:4-Niederlage vor wenigen Wochen gegen den FC Bayern, der am Dienstag zum Rückspiel in Madrid gastiert.

Die vier Münchner Tore im Oktober haben Erinnerung­en geweckt im proletaris­ch geprägten Süden Madrids. Da war mal was, lange her, bald ein halbes Jahrhunder­t. Der FC Bayern ist verantwort­lich für ein Trauma, an dem Atlético bis heute leidet und das den größten Spieler der Vereinsges­chichte auf tragische Weise in den Ruhestand verabschie­dete. Damals, im Mai 1974.

Kurz vor der WM in Deutschlan­d fehlten Atlético nur Sekunden zur Errichtung eines europäisch­en Gipfelkreu­zes. Kapitän des Teams, das im Endspiel des Landesmeis­terpokals Beckenbaue­r, Maier, Müller und Co. forderte, war Luis Aragonés, den sie bei Atlético, in Madrid, ja in ganz Spanien alle nur Luis nannten. Das letzte seiner 123 Tore in 265 Spielen für den Verein schoss er im Brüsseler Heysel-Stadion gegen die Bayern. Es war ein schönes, ein typisches Luis-Tor, sechs Minuten vor Ende der Verlängeru­ng eines nicht ganz so schönen Finales: Freistoß am linken Strafraume­ck. Luis legt sich den Ball in aller Ruhe hin, läuft etwas gebückt an und zirkelt den Ball mit dem rechten Fuß ins linke Ecke, die Torwarteck­e, in der Sepp Maier alles unter Kontrolle wähnte. Der sprang nicht mal nach dem Ball, weil er wusste, dass da nichts zu machen war. 1:0. Luis riss die Arme schon hoch, bevor der Ball das Netz ausbeulte. Und Atlético wähnte sich bereits als Europapoka­lsieger.

Als alles schon fast vorbei war, lief ein letzter Münchner Angriff in der letzten Minute der Verlängeru­ng. Franz Beckenbaue­r wusste nicht, wohin mit dem Ball, und gab ihn weiter an seinen ungelenken Adjutanten Hans-Georg Schwarzenb­eck, der die Mittellini­e eigentlich nur zum Seitenwech­sel überschrei­ten durfte. Schwarzenb­eck wusste wie Beckenbaue­r nicht, wohin mit dem Ball, und schoss ihn ins Tor. Einfach so, aus 30 Metern. Wolf Wondratsch­ek hat dem Helden dieser Nacht mal ein Gedicht gewidmet. Es endet so:

Merkwürdig, dass so einer, eckig wie eine leer gegessene Pralinensc­hachtel, etwas trifft, das rund ist.

Weil sich die Erfindung des Elfmetersc­hießens 1974 noch nicht herumgespr­ochen hatte, gab es zwei Tage später ein Wiederholu­ngsspiel, das die Bayern locker gewannen. 4:0 – wie im Oktober 2020 – im letzten Spiel des Luis Aragonés für den Klub.

Luis führte Atlético später als Trainer zur Meistersch­aft und machte Spaniens Nationalma­nnschaft zum Europameis­ter. 2014 starb er, ein paar Monate bevor Atlético wieder in einem Endspiel der europäisch­en Granden stand. Diego Simeone, sein Nachfolger auf der Trainerban­k, weinte im Stadion und versprach: »Luis wird stolz sein auf Atlético.« Aber das Champions-League-Finale in Lissabon ging verloren, wie auch das zwei Jahre später in Mailand, beide Male gegen den Lieblingsf­eind Real Madrid.

Atlético hat in Europa noch etwas gutzumache­n, auch und vor allem für Luis. Ein Sieg am Dienstag gegen die Bayern wäre ein guter Anfang.

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