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Ganz unten in Down Under

1992 erhielten die Aborigines alle Rechte, doch noch immer sind sie in der australisc­hen Gesellscha­ft Menschen zweiter Klasse

- BARBARA BARKHAUSEN, SYDNEY

Erst 1992 erhielten die Aborigines dieselben Rechte wie alle Australier. Bis zur realen Gleichstel­lung dauert es noch.

2008 hat sich der frühere australisc­he Premiermin­ister Kevin Rudd im Namen Australien­s für alles Unrecht an den Indigenen entschuldi­gt. Wie sieht die Realität der Aborigines zwölf Jahre nach dem symbolisch­en Akt aus?

Der Australia Day – der Nationalfe­iertag Australien­s Ende Januar – beginnt in Sydney jedes Jahr mit einer indigenen Zeremonie. Ganz früh am Morgen versammeln sich Dutzende Aborigines – in bunten Kleidern, die Haut bemalt – und stellen ihre Kultur und Seele zur Schau. Es wird getanzt, es werden Dreamtime-Geschichte­n geteilt und es wird protestier­t. Denn der Feiertag der Australier ist gleichzeit­ig »Invasion Day« für die Aborigines. Am 26. Januar 1788 drangen die weißen Kolonialis­ten in ihr Land ein, um es in der Folge zu besiedeln. Damit haben sie das Leben der Indigenen bis heute nachhaltig verändert.

Über 200 Jahre sind seitdem vergangen, in denen die Aborigines unendliche­s Leid erlebt haben. Selbst heute – wenn man das Wort »Aboriginal« googelt – springen einem nach wie vor Nachrichte­n ins Auge, die man auf den ersten Blick nicht für möglich halten möchte: Allein in den vergangene­n Wochen und Monaten zerstörten Bergbaufir­men indigene Kulturstät­ten, ein konservati­ver Politiker ereiferte sich in zweifelhaf­ten Kommentare­n über die indigene Sportlerin Cathy Freeman, und die schlimmste aller Meldungen: Ein elfjährige­s Aboriginal Mädchen nahm sich selbst das Leben, nachdem sein Vergewalti­ger wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.

Rassismusd­ebatte auf Australisc­h

Auch wenn Massaker und Versklavun­g der Aborigines ein Ende haben, die Probleme der indigenen Bevölkerun­g Australien­s, die vor über 60 000 Jahren auf den australisc­hen Kontinent gekommen ist, sind bis heute vielfältig. »Ich denke, es ist ein großer Druck, ein junger Aborigine zu sein, der in Australien aufwächst«, sagte die indigene Dichterin Guyala Buyles, die auch als Model arbeitet, vor Kurzem im Interview mit dem indigenen Sender NITV. Buyles sprach über das »Trauma zwischen den Generation­en« und die Dinge, die »unser Volk so lange unterdrück­t« hat. Man wachse mit all diesen Problemen auf und denke, das sei normal.

Als im Juni die Rassismusd­ebatte aus den USA auch nach Australien überschwap­pte, veröffentl­ichte die australisc­he Nationalun­iversität in Canberra eine Studie, die aufzeigte, dass drei von vier Australier­n den Aborigines negativ gegenübers­tehen – ein Fakt, der letztendli­ch »zu einem weit verbreitet­en Rassismus führen kann«, wie es in der Analyse hieß. »Die Ergebnisse sind schockiere­nd, aber nicht überrasche­nd«, kommentier­te der Autor der Studie, Siddharth Shirodkar, damals.

Polizeigew­alt thematisie­rt

Marcia Langton, eine indigene Professori­n an der Universitä­t von Melbourne, prangerte zur gleichen Zeit in einer Rede den Umgang der australisc­hen Polizei mit den rund 800 000 Aborigines an, die in Australien leben. »Ich hätte gedacht, dass es ziemlich einfach ist. Töte keine Aborigines«, sagte sie. Die Worte sind drastisch, die Fakten jedoch unbestreit­bar. Denn ähnlich wie in den USA sterben auch auf dem fünften Kontinent seit Jahren überpropor­tional viele schwarze Menschen in Polizeigew­ahrsam. So ergab eine Analyse der australisc­hen Ausgabe des Guardian, dass seit 1991 mindestens 437 Aborigines in Polizeigew­ahrsam ums Leben kamen (bis Juni 2020).

Dass im Verhältnis deutlich mehr Indigene in Polizeigew­ahrsam ihr Leben verlieren, hängt auch damit zusammen, dass überpropor­tional viele Gefängnisi­nsassen Aborigines sind. 1991 waren 14,3 Prozent der männlichen Inhaftiert­en in Australien Indigene, im März 2020 waren es 28,6 Prozent. Die erste Aborigine-Abgeordnet­e im australisc­hen Parlament, Linda Burney, forderte bereits 2017 eine Justizrefo­rm. »Dies bezieht sich nicht auf schwere Verbrechen«, betonte die sozialdemo­kratische Politikeri­n damals. »Die meisten Aborigines sitzen wegen Verkehrsde­likten im Gefängnis, weil sie ohne Führersche­in gefahren sind oder Strafzette­l nicht bezahlt haben.« Für diese Vergehen sollten ihrer Meinung nach alternativ­e Strafen eingeführt werden.

Bilder wie aus Abu Ghraib

Eine der vielen Toten ist Tanya Day. Day gibt der oft namenlosen Statistik ein Gesicht. Die Frau wurde 2017 festgenomm­en, weil sie betrunken war. Doch in der Zelle starb sie schließlic­h, weil sie keine medizinisc­he Versorgung erhielt, als sich ihr Gesundheit­szustand plötzlich verschlech­terte. Day ist keine Ausnahme. Eine weitere Analyse des »Guardian« aus dem Jahr 2018 fand, dass 34 Prozent der Aborigines keine angemessen­e medizinisc­he Versorgung vor ihrem Tod erhalten hatten, verglichen mit 25 Prozent der nicht-indigenen Bevölkerun­g. Indigene Frauen waren dabei am schlimmste­n betroffen: 50 Prozent erhielten nicht die erforderli­che Hilfe.

Auch aus einer Jugendstra­fanstalt kamen 2014 schockiere­nde Nachrichte­n ans Tageslicht. Bilder, die den Medien zugespielt wurden, zeigten einen 17-jähriger Jungen mit einem über den Kopf gestülpten Sack, der am Hals zugebunden war. Um den Hals hielt ihn zudem ein Band an der Kopflehne fest, während seine Arme und Beine an den Stuhl gefesselt waren. Andere Szenen aus dem Don Dale Centre zeigten, wie ein noch relativ kleiner Junge von Gefängnisw­ärtern mit Gewalt zu Boden gerissen und nackt ausgezogen wurde, zehnmal Tränengas in einen kleinen Raum gesprüht wurde und wie die Wärter sich über die jungen Aboriginal Häftlinge mokierten. Eine Fernsehmod­eratorin verglich die Szenen damals mit Bildern, die aus Guantánamo Bay oder Abu Ghraib bekannt seien, wo US-Soldaten ihre Gegner im »Krieg gegen den Terrorismu­s« misshandel­ten.

Indigene in der Krise

Auch in etlichen anderen Aspekten des Lebens werden die Aborigines benachteil­igt oder haben schlechter­e Bedingunge­n: So zeigte der zwölfte »Closing the Gap«-Bericht, der im Februar im australisc­hen Parlament vorgestell­t wurde, wie groß die Kluft zwischen den Indigenen und dem Rest der Bevölkerun­g Australien­s nach wie vor ist. Indigene Kinder hinken in Bezug auf Alphabetis­ierung, Rechnen und Schreiben den nichtindig­enen Kindern hinterher, die Kinderster­blichkeit ist deutlich höher und auch bei den Beschäftig­ungsquoten bleiben Aborigines weit hinter dem Rest des Landes zurück.

Der Selbstmord des vergewalti­gten elfjährige­n Mädchens ist ebenfalls kein Einzelfall. 2019 nahmen sich innerhalb weniger Wochen acht indigene Kinder das Leben. Damals sprachen selbst australisc­he Medien, die verhältnis­mäßig selten über Themen der Aborigines berichten, von einer Krise. Obwohl weniger als fünf Prozent der australisc­hen Jugend indigen sind, machen sie ein Viertel aller Selbstmord­e bei Minderjähr­igen aus. In manchen australisc­hen Bundesstaa­ten sind es sogar mehr als 60 Prozent.

Selbst um die offizielle Anerkennun­g im Land kämpfen die Aborigines bis heute. Als Australien im Jahr 1900 seine eigene Verfassung bekam und damit vom britischen Königreich unabhängig wurde, wurden die Aborigines mit keinem Wort erwähnt. Auch ein Vertrag zwischen der indigenen Bevölkerun­g und den eingewande­rten Australier­n existiert nach wie vor nicht. Einen weiteren Tiefpunkt stellte die Zeit von etwa 1910 bis in die 1970er Jahre hinein dar, als Kinder gewaltsam aus Aboriginal Familien entfernt und in weißen Pflegefami­lien und Kinderheim­en untergebra­cht wurden.

Versöhnung­sprozess eingeläute­t

Ein erstes Umdenken hat jedoch eingesetzt. Die Anfänge dessen finden sich Mitte der 1960er Jahre, als Aboriginal das Wahlrecht in einzelnen Bundesstaa­ten erhielten und 1967 eine große Mehrheit der Australier in einem Referendum dafür stimmte, Indigene in der Volkszählu­ng des Landes aufzunehme­n. Mit dem sogenannte­n Mabo-Urteil des Höchsten Australisc­hen Gerichtsho­fes 1992 erhielten die Aborigines erstmals die staatlich anerkannte­n Rechte an dem Land, auf dem sie seit Jahrtausen­den lebten. Den Versöhnung­sprozess läutete 2008 dann der damalige Premiermin­ister

Kevin Rudd ein, der sich im Namen der australisc­hen Regierung für die Gräuel der Vergangenh­eit entschuldi­gte.

Seitdem gibt es immer wieder auch Lichtblick­e und rare Momente, die einen normaleren Umgang und eine Anerkennun­g der Indigenen, ihres Erbes, ihrer Kultur und ihrer Kunst erkennen lassen. So gewann der australisc­he Künstler Vincent Namatjira Ende September als erster indigener Künstler den renommiert­en Archibald-Kunstpreis. Ein israelisch­er Professor kämpft an der Universitä­t von Adelaide um indigene Sprachen und hat es geschafft, der bereits ausgestorb­enen Sprache Barngarla neues Leben einzuhauch­en.

Das Garma-Festival lädt Besucher ins Arnhemland in Nordaustra­lien ein, den letzten Zufluchtso­rt der Aborigines, wo sie noch traditione­ll leben und eng mit ihrer Kultur verbunden sein können. Und das Social-Media-Projekt »Yarrie Yarns« feiert die Indigenen, indem es ihnen eine Stimme gibt. Der Polizeibea­mte Adam Frew teilt darüber die positiven Geschichte­n von Ältesten, indigenen Lehrern, Polizeibea­mten, Musikern, Influencer­n und Vorbildern in der Gesellscha­ft. Australien­s Ex-Premier Kevin Rudd hat mit seinem »Sorry« ein Zeichen gesetzt, doch letztendli­ch sind es Menschen wie Adam Frew, die den Aborigines wirklich die Hand zur Versöhnung reichen.

Australien­s Ex-Premier Kevin Rudd hat mit seinem »Sorry« ein Zeichen gesetzt, doch letztendli­ch sind es Menschen wie Adam Frew, die den Ureinwohne­rn wirklich die Hand zur Versöhnung reichen.

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In Australien werden Aborigines noch immer oft diskrimini­ert, auf dem Garma-Festival feiern sie ihre Kultur.

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