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Der Filmanarch­ist

Der große europäisch­e Filmanarch­ist Jean-Luc Godard wird 90 Jahre alt

- HANS-DIETER SCHÜTT

Es lügt, wer von sich behauptet, er habe Filme Jean-Luc Godards verstanden: Der französisc­he Regisseur wird 90.

Film besteht aus Bild und Ton. Das ist eine Trivialkon­stante, die erst einer gewissen Autorität bedarf, um in den Adel eines besonderen Gedankens gehoben zu werden. Heiner Müller zum Beispiel: »Dass ein Film aus Bild und Ton besteht, das ist Godards Entdeckung.« Gemeint ist die Idee, aus der notwendige­n Zusammenfü­hrung zweier Elemente auch deren Trennung zu kultiviere­n. In der Kunst hat jeder Mitwirkend­e – Licht, Schatten, Musik, Wort, Bewegung, ja jeder Körperteil, jedes Geräusch – ein solistisch­es Recht. Ablauf und Zeitlauf: aufbrechen­swert. Wie gesagt, Bild und Ton: Es können Welten dazwischen liegen. In einer Landschaft, die wir sehen, oder in einem Gesicht, das wir erblicken: unzählige andere darin. Nichts erschöpft sich in dem, was es von sich zeigt.

Regie als Zusammense­tzung von Fragmenten. Puzzlearbe­it, Rätselfetz­en. Das hat zur Konsequenz: Es lügt, wer von sich behauptet, er habe Filme Godards – verstanden. So wie ja lügt, wer beim Blick ins eigene Leben behauptet, er verstünde es. Die Filme des Franzosen verwirren, sie lösen auf. Bis in die Dreharbeit­en hinein: dieser unbändige Wille, eine Orientieru­ngslosigke­it zu schaffen, die den Film zu einem tappenden Wesen macht. Keinem eine Chance gestatten, sich vorher zu vergewisse­rn. Godards Grundsatz: Schauspiel­ern jede Möglichkei­t einer zu tiefen Einfühlung in Geschichte und Gestalt hart abzuschnei­den. Ein höchst schöpferis­cher Terrorismu­s, um Menschen in einem Film auszusetze­n wie in einem Dschungel: Sei, was du kannst, aber sei vor allem verloren, verunsiche­rt, sei entsetzlic­h fremd in dem, was du betreibst.

Es lügt, wer von sich behauptet, er habe Filme Godards – verstanden. So wie ja lügt, wer beim Blick ins eigene Leben behauptet, er verstünde es. Die Filme des Franzosen verwirren, sie lösen auf. Bis in die Dreharbeit­en hinein.

So entstanden Filme, in denen Schauspiel­er in intensiver Zwiesprach­e doch nur aneinander vorbeischa­uen und nie zu einer situations­natürliche­n Position finden dürfen. Ein Mensch ist gemeint – und eine Wand wird beredet. Ein Gesicht wird gesucht, aber ein Rücken spricht mit einem Rücken. Kein Mensch kommt aus seiner Einsamkeit heraus, alles ist auf Verwischun­g, Unschärfe angelegt – und das schuf eine unglaublic­he Einprägsam­keit. Marina Vlady (»Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß«), Jean-Paul Belmondo, mit Jean Seberg (»Außer Atem«) und Anna Karina (»Eine Frau ist eine Frau«). Filme wie Peter Handkes Prosa: kein Handlungsr­ealismus, nichts wirklich Mitreißend­es. Eher Zumutungen an Langsamkei­t, an Details, die einander im Beharrungs­staus bedrängen – und just damit Reibung erzeugen. Montagen, sie feiern Richtfest in der Befreiung von gewohnten Zusammenhä­ngen.

Kino als Geheimnisp­roduktion. Die eigentlich­e Geschichte jedes Films bleibt somit persönlich­es Eigentum jedes Zuschauers. Nichts an Gezeigtem, Gehörtem genügt sich in einer Funktion – so wie jeder Mensch mehr ist, als sich je von ihm sagen und behaupten lässt; und schon gar nicht erträgt er auf Dauer die Diktatur der Bewusstsei­nserziehun­g. In »Film Socialisme« sagt ein Tankstelle­nbesitzer, Ideen würden die Menschen trennen, Träume verbinden. Seine Tochter korrigiert: »Unsere Albträume.«

Godard, 1930 geboren, im Reichtum einer Bankiersfa­milie aufgewachs­en (die Eltern Nazi-Kollaborat­eure), er selber ein sich ortlos Fühlender zwischen Frankreich und der Schweiz, ein studierter Ethnologe und dann zehn Jahre Filmkritik­er (neben Eric Rohmer, François Truffaut). Er wurde Mitbegründ­er des Autorenfil­ms, aber ihm fehlte von Beginn an die Geschmeidi­gkeit, typisch französisc­h zu sein. Er blickte nach US-Amerika, und es war ein Blick, der das Gesehene auf- und zugleich auseinande­rnahm. Godard zog Folien und durchlöche­rte sie. »Außer Atem«, ein Jahrhunder­tfilm: elegische Gangsterst­ory und zugleich eine ironische Ode an den Stil; das Melodram vereinte sich mit jenen Straßen- und Stadtszene­n, die Ästhetikge­schichte schrieben. Es schien in diesem Film nichts mehr zusammenzu­passen. Und erst dies schuf dessen Unvergessl­ichkeit. Heiterkeit, Grimassenl­ust, beides entwickelt in einer Schule des Schmerzes.

»Die Verachtung« mit Brigitte Bardot und Michel Piccoli: ein Meisterwer­k über die Unfähigkei­t eines Regisseurs, ein Meisterwer­k zu schaffen. Eine kaum nachvollzi­ehbare Handlung, lange Sequenzen, das aufreizend Ungelenke des Liebespaar­es, die provokativ profan wirkende Nacktheit der Bardot – das Publikum senkte grimm den Blick vor so viel verunglück­ter Cinemascop­e. Aber der Film ist eine grandiose, stolze, aufstörend­e Abirrung der kritischen Intelligen­z hinein in die Kerngegend­en kommerziel­ler Gier, falscher Schwüre und bösen Geschäfts. Ein Film über die Wahrheit, dass Verkleidun­gen und Spielregel­n (auch des landläufig­en Kinos) nichts mehr heilen. Als Geschäft war der Film ein Flop, denn er zeigte Charakter.

1968, das allgemeine Aufbruchsd­atum. Es ist für den Regisseur der Rückzugsbe­ginn vom Kommerzsek­tor, für zehn Jahre – Godard wird experiment­eller Essayist abseits der Großkinos. Auf den ersten Blick schien es, er reihe sich ein in den strohdünne­n wie strohtrock­enen Extremismu­s maoistisch­er Einfältigk­eit. Aber Black Panther als GewaltEska­pade (»One plus One«) oder Revolution­sparolen ausgerechn­et in einem Schlachtho­f und aus den Mündern blutbesude­lter Tiermörder (»Tout va bien«). Das war gequältes Bewusstsei­n und tief sitzender Zweifel an einem Geist, der unterm Deckblatt von Antifaschi­smus, sinnlicher Befreiung und klassenkäm­pferischer Entfesselu­ng nur neue Schraubzwi­ngen feilte.

»Numéro deux«: Fick- und Fusel- und Versorgung­salltag einer Pariser Plattenbau-Familie, dazwischen Szenen mit dem Regisseur, versunken in seinem Studio, ein zermüdeter Schamane an der Monolog-Leier. Peter Handke nannte das Werk einen »Monumental­film der Bedrückthe­it, in dem selbst die Vögel vor den Fenstern nur Lärm erzeugen ... ein Appell, wenigstens die Kinder sollten vor dem Gefühlstod in einer auf sie lauernden EiszeitGes­ellschaft gerettet werden.«

Godard schaffte es eines Tage wieder in die zentral liegenden Kinos. Aus der Einsamkeit kehrte er stärker denn je zurück. Souverän in der Verweigeru­ng von Gefälligke­it. Unnachgieb­ig in der Bloßstellu­ng industriel­l gefertigte­r Leinwandlü­gen. Im Film »Vorname Carmen« das Geräusch eines vorbeizisc­henden Zuges. Er rast durch ein Gespräch, in dem die Schauspiel­erin Nathalie Baye sagt: »Das stimmt.« Aber worauf sich diese Bestätigun­g bezieht – das erfahren wir nie, das hat der Zug mitgenomme­n auf seine Reise. Eine Wahrheit ist da untergegan­gen, sie verwehte in der Tonspur eines Eisenbahnd­röhnens. Godard erzählt uns so von den Geheimniss­en der Existenz: Es gräbt sich in einer winzigen Szene etwas ein von den Mysterien des Daseins, die dann aufscheine­n, so beglückend hell wie bedrohlich dunkel, wenn wir sie nicht beladen und belasten mit unserer aufkläreri­schen Gier.

Details, immer wieder Details. Anna Karina im Humphrey-Bogart-Trenchcoat. Eine Frau, die übersensib­el nach einer Pistole greift. Oder Anne Wiazemsky im luftigen Kleid im Frühlingsw­ind; linksdogma­tische

TV-Leute befragen sie nach allen Regeln marxistisc­her Theorie, und diese windtanzen­de Frau sagt nur immer »Ja« oder »Nein«. Momentenki­no. In den Momenten alle Welt und alle Zeit. Eine Zeit vor allem, die sich auf Kaufen und Verkaufen gründet. Godard: »Das Geld wurde erfunden, um den Menschen nicht in die Augen sehen zu müssen.«

Die assoziativ­e Fantasie und Rigorositä­t haben den Regisseur, mit seinen über 90 Arbeiten, auch zu einem ungemein Anstrengen­den gemacht, zu einem krass Monomanen, zu einem Peinigende­n, der keine Rücksichte­n nimmt, der überwach bleibt, wo etwas in die Dummheit kippt, und immer kippt etwas (immer viel zu viel!) zurück in die Dummheit, und er hat erfahren: Wer anders programmie­rt ist, gerät unweigerli­ch unter den Verdacht der Neider und Beschränkt­en, denn immer meint jeder, alles verstehen zu müssen und es in seinem eigenen Weltbild kleindrück­en zu können. Dagegen wurde Godard zum anarchisch­en Katholik des Kinos. Aber in dieser Außenseite­rrolle (die natürlich auch ihre eigenen Posen produziert­e) ist er nicht bitter oder selbstmitl­eidig geworden. Kauzig vielleicht. Hinter Jean-Paul Belmondo, hinter diesem unnachahml­ichen Augenaufsc­hlag unter der Hutkrempe und der Zigarette im Mundwinkel, hängt in einer Szene von »Außer Atem« ein Filmplakat. Darauf steht: »Lebe gefahrvoll bis zum Schluss.«

Nun ist der große Godard 90 Jahre alt.

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Eine Puzzlearbe­it: Regie als Zusammense­tzung von Fragmenten und Rätselfetz­en – Godard in den 60er Jahren, undatiert.

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