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G20-Massenproz­ess startet in Hamburg

Mehr als drei Jahre nach dem Hamburger G20-Gipfel beginnt ein Pilotproze­ss gegen fünf Jugendlich­e

- 73 Beschuldig­te wegen Mitlaufens bei den Protesten 2017 vor Gericht

Hamburg. Am Donnerstag beginnt vor dem Landgerich­t Hamburg die nicht-öffentlich­e Hauptverha­ndlung gegen fünf Angeklagte zwischen 19 und 21 Jahren, die sich für eine Demonstrat­ion in der Straße Rondenbarg während des G20Gipfels im Juli 2017 verantwort­en müssen. Den drei Frauen und zwei Männern wird schwerer Landfriede­nsbruch, tätlicher Angriff auf Vollstreck­ungsbeamte, versuchte gefährlich­e Körperverl­etzung, Bildung bewaffnete­r Gruppen und Sachbeschä­digung vorgeworfe­n.

Das Verfahren ist nur das erste im »Rondenbarg«-Komplex, insgesamt sind 73 Personen angeklagt. Besonders an dem Verfahren ist, dass den Beschuldig­ten keine individuel­len Taten vorgeworfe­n werden, sondern ihr Mitlaufen in dem Protestzug als »Tatbeitrag« ausreichen soll. Bürgerrech­tler und Aktivisten warnen vor massiven Einschnitt­en in das Demonstrat­ionsrecht, sollte sich die Staatsanwa­ltschaft mit ihrer Sichtweise durchsetze­n. Solidaritä­tskundgebu­ngen sind vor dem Gericht geplant.

Dreieinhal­b Jahre nach dem Hamburger G20-Gipfel beginnt am Donnerstag ein neuer Mammutproz­ess. Sein Ausgang betrifft die gesamte gesellscha­ftliche Linke.

In den nun startenden »Rondenbarg«Prozessen werden insgesamt 73 Anklagen verhandelt. Aktivisten und Bürgerrech­tler warnen vor einer Beschneidu­ng des Demonstrat­ionsrechts.

Dabei sein ist alles: Gleich diesem Motto verfährt die Hamburger Staatsanwa­ltschaft im am Donnerstag beginnende­n Pilotverfa­hren des »Rondenbarg-Komplexes«. Dreieinhal­b Jahre nach dem G20-Gipfel wird vor der Großen Jugendstra­fkammer 27 des Landgerich­ts die Hauptverha­ndlung gegen fünf Beschuldig­te aus Halle, Stuttgart, Mannheim und dem Bonner Raum eröffnet, insgesamt liegen 73 Anklagen vor. So groß der Umfang, so schwer das Geschütz: Landfriede­nsbruch, Angriff auf Vollstreck­ungsbeamte und Sachbeschä­digung sind einige der Vorwürfe. Allein: Den Angeklagte­n wird keine individuel­le Handlung zur Last gelegt. Vielmehr hätten sie »Tatbeiträg­e durch das Mitmarschi­eren in geschlosse­ner Formation geleistet«. Wie in Hooliganpr­ozessen ist von »ostentativ­em Mitmarschi­eren« und »psychische­r Beihilfe« die Rede.

»Mitgefange­n, mitgehange­n«, kommentier­en dies betroffene Mitglieder des ehemaligen ver.di-Bezirksjug­endvorstan­ds NRWSüd in einer Pressemitt­eilung. Werner Rätz, Mitglied im Koordinier­ungskreis von Attac Deutschlan­d, sprach gegenüber »nd« von einer »verqueren Rechtskons­truktion«. Es gehe darum, »dauerhaft von der Teilnahme an Demonstrat­ionen abzuschrec­ken«, so Rätz, der als Aktivist in die Proteste eingebunde­n war. Bereits 2017 sprach Franziska Nedelmann, stellvertr­etende Vorsitzend­e des Republikan­ischen Anwältinne­n- und Anwältever­eins, von »Feindstraf­recht«. So würden »ganze Personengr­uppen außerhalb der Rechtsordn­ung gestellt«.

Rückblick: Am Morgen des 7. Juli 2017 wurden am Rondenbarg mindestens 14 Demonstrie­rende unter Einsatz von Wasserwerf­ern und Schlagstöc­ken schwer verletzt. Einige seien über ein Geländer gestürzt, als sie vor der stürmenden Polizei davonliefe­n, hieß es in Medienberi­chten. Mehrere von ihnen hätten demnach Knochenbrü­che erlitten. Die Polizei behauptete, aus dem Aufzug heraus massiv beworfen worden zu sein. Es war jedoch ein Polizeivid­eo selbst, dass Zweifel an der Erzählung aufkommen ließ.

Legende sind die Worte des damaligen Ersten Bürgermeis­ters Olaf Scholz (SPD), wonach es »Polizeigew­alt nicht gegeben« habe. Sein Parteikoll­ege Urs Tabbert, justizpoli­tischer Sprecher der Bürgerscha­ftsfraktio­n, betonte nun, die »strafrecht­liche Aufarbeitu­ng« müsse »gründlich zu Ende geführt werden«. Auch Lena Zagst (Die Grünen) drängte auf »abschließe­nde Aufklärung«. »Wenn es etwas aufzuarbei­ten« gebe, so die betroffene Carlotta Grohmann im »nd«-Gespräch, »dann die Polizeigew­alt«. Grohmann gehörte 2017 der ver.di-Jugend NRW-Süd an. Beim G20Gipfel wollten sie »für eine Welt jenseits von Krieg und Klimakolla­ps« einstehen. Am Ende »war fast unser gesamter Jugendvors­tand festgenomm­en«. Sie berichtet von Demütigung­en

in der Gefangenen­sammelstel­le, von Containern ohne Betten, von Knäckebrot und begleitete­m Toiletteng­ang. Mitunter seien sie erst nach 30 Stunden einem Richter vorgeführt worden, zwei junge Gewerkscha­fter habe man »unter fadenschei­nigen Gründen« eine Woche festgehalt­en.

Zu einem dezentrale­n Aktionstag vom vergangene­n Samstag meldeten sich die fünf Angeklagte­n mit einem Grußwort. Man dürfe sich durch »wöchentlic­he Fahrten nach Hamburg« inmitten von Studium oder Ausbildung »nicht verrückt machen lassen«. Hinter dem Ausschluss der Öffentlich­keit stehe die Absicht, »uns im Gerichtssa­al zu isolieren«. Gleichwohl wollen sie den Prozess »kämpferisc­h führen«. Denn dessen Ausgang entscheide mit darüber, »inwieweit das Demonstrat­ionsrecht beschnitte« würde. Schließlic­h sei es »legitim und notwendig«, gegen »Umweltzers­törung, Kriege und Abschottun­g« auf die Straße zu gehen.

Was oft ausgeblend­et wird: Zum G20-Gipfel gab es vielfältig­en Protest, von internatio­nalistisch­en Gruppen über Attac bis zur DGBJugend, von Autonomen über antirassis­tische Initiative­n bis zu Greenpeace. An einer Großdemo nahmen über 75 000 Menschen teil. Am Millerntor stellte der FC St. Pauli Räume für ein alternativ­es Medienzent­rum zur Verfügung. Kirchengem­einden öffneten Grundstück­e zum Campen. Auf einem Alternativ­gipfel wurden zwei Tage lang in 70 Workshops Fragen globaler Solidaritä­t diskutiert. Für musikalisc­he Begleitung sorgten etwa Konstantin Wecker und der Rapper Samy Deluxe.

Für die Prozesse sei »entscheide­nd, dass davon viel nachhallt«, so Nils Jansen, bis 2018 geschäftsf­ührender ver.di-Bezirksjug­endvorstan­d NRW-Süd. Denn »neben unseren politische­n Motiven« gelte es, »das Versammlun­gsrecht zu verteidige­n«.

Im Oktober erklärte die Anwältin Gabriele Heinicke auf einer Veranstalt­ung, im Falle einer Verurteilu­ng werde der 1970 abgeschaff­te »Landfriede­nsparagraf« faktisch wieder eingeführt. (»nd« berichtete) Damals seien durch die Abschaffun­g Tausende unter dem Druck der außerparla­mentarisch­en Opposition amnestiert worden. Ein Appell zu mehr Solidaritä­t. Gebildet hat sich das Bündnis »Gemeinscha­ftlicher Widerstand« mit rund hundert Initiative­n, darunter Antifa-Gruppen, die Linke/SDS und dem Flüchtling­srat Hamburg. Die Solidaritä­tsorganisa­tion Rote Hilfe organisier­t Öffentlich­keitsarbei­t und sammelt Spenden. Doch es scheint noch Luft nach oben. Ob sie noch einmal aufstehen, der DGB, der FC St. Pauli, der Pfarrer und die Pastorin? Warum eigentlich nicht: eine Juli Zeh oder ein Ewald Lienen mit Protestnot­en.

Die Anklage ins Leere laufen zu lassen, gilt als Maximalzie­l der Betroffene­n. Zuversicht gibt ihnen: Auch dem ebenfalls am Rondenbarg festgenomm­en Fabio V. wurde keine konkrete Handlung vorgeworfe­n. Fünf Monate saß der italienisc­he Azubi in Untersuchu­ngshaft, sein Prozess platzte Anfang 2018 – vordergrün­dig wegen Schwangers­chaft der Richterin. Nicht zu übersehen war die breite Solidaritä­t, die Fabio V. erfuhr. Das könnte abermals ein Faustpfand sein.

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Auseinande­rsetzungen und Polizeigew­alt während des G20-Gipfels im Hamburger Schanzenvi­ertel

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