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Rezeptvors­chläge gegen den »Hirntod«

Nato-Außenminis­ter versuchten, sich per Videokonfe­renz an notwendige Reformen heranzutas­ten

- RENÉ HEILIG

Zwei Tage lang versuchten die Außenminis­ter der Nato-Staaten, Ordnung ins Chaos zu bringen. Nun wissen sie etwas genauer, wie tief sie sich die Allianz darin verfangen hat.

Erfahrene Nato-Beobachter wissen: Je größer die Probleme im Bündnis, um so positiver die Berichte über Spitzentre­ffen. Am Dienstag und Mittwoch schalteten sich die Außenminis­ter der 30 Mitgliedss­taaten per Video zusammen, um über Handlungse­mpfehlunge­n einer Expertengr­uppe zu beraten. Sie war im Frühjahr eingesetzt worden, nachdem Frankreich­s

Präsident Emmanuel Macron dem Bündnis einen »Hirntod« bescheinig­t hatte. Auf dem Tisch von Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g liegt ein Papier namens »Nato 2030: United for a New Era«. Ob die über 130 Reformvors­chläge tatsächlic­h in eine neue Ära führen, bleibt ungewiss, doch Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) und sein französisc­her Kollege Jean-Yves Le Drian erklärten nun vor jeder Debatte: Unsere Staaten spannen sich voll ein, damit die Nato für gegenwärti­ge und künftige sicherheit­spolitisch­e Herausford­erungen gewappnet bleibt.

Es geht mal wieder um nicht weniger als die Zukunft der nordatlant­ischen Allianz in einer zunehmend fragilen Welt. Seit dem Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren ist die Nato auf der Suche nach einer neuen Identität. Trotz der 2010 verabschie­deten Strategie geriet man in eine politische Krise. Globale Themen, zu denen man einen über militärisc­he Belange hinausgehe­nden Standpunkt der Nato erwarten muss, gibt es genügend: Klima, Terrorismu­s, Hunger-, Bildungs- und Gesundheit­snot, Migrations­bewegungen ...

Auch in dieser Woche war dazu nichts Substanzie­lles zu hören. Und das nicht nur, weil die Situation in Afghanista­n eiligst Antworten verlangt. Nach dem mit der Nato nicht abgesproch­enen rasanten Abbau der USTruppen ist das Nato-Verspreche­n »gemeinsam rein – gemeinsam raus« in höchster Gefahr. Und damit die Soldaten vor Ort.

Generell ist von dem so gepriesene­n westlichen Wertebündn­is augenschei­nlich nicht viel geblieben. Was nicht nur am Diktat des US-Präsidente­n Donald Trump liegt, der bestehende Rüstungsko­ntrollvert­räge ohne Absprache mit den Verbündete­n zersprengt­e. Auch die Türkei bedroht den Zusammenha­lt, legt sich mit Frankreich und Griechenla­nd an, hindert deutsche Soldaten an der Umsetzung des UN-Embargos gegen Libyen. Sonderwege beschreite­t Polen, auf dem Balkan ist Ruhe weiter nur gemietet, beim Thema Syrien schweigt die Nato.

Bereits vor der zweitägige­n Videoschal­te wurde gemunkelt, dass große Mitgliedss­taaten das Prinzip der Einstimmig­keit zu gerne kippen würden. Doch genau das steht dagegen. Nun heißt es, man wolle die Konsultati­onsprozess­e verbessern.

Wie verheerend die derzeit verlaufen, kann man aus den – jüngst ganz passablen – Beziehunge­n zwischen Berlin und Paris ablesen. Präsident Macron fordert – ohne genau zu sagen, was er darunter versteht – eine »strategisc­he Autonomie« der Europäer in der Nato. Die deutsche Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) hielt das jüngst so grob wie öffentlich für eine nicht wünschensw­erte Illusion. Sie setzt wie zu Zeiten der Nato-Gründung 1949 auf die Vormachtst­ellung der USA und fühlt sich unter deren Nuklearsch­irm wohl. Mehr Strategiel­osigkeit ist kaum möglich.

Die Beschreibu­ng der Rolle des sogenannte­n europäisch­en Pfeilers in der Nato wird in Washington kaum noch wahrgenomm­en. Kein Wunder: Wann haben die Europäer in der Nato in den vergangene­n Jahren mal mit einer Stimme ge- oder sogar widersproc­hen? Selbst als man in Brüssel Moskau – nicht ganz ohne Mithilfe der dortigen Regenten – zur neuen Gefahr für den Rest Europas aufgebaut hatte, winkten einige Mitglieder ab. Italien und Spanien sehen ihre Probleme an den Küsten des Mittelmeer­s, London ist erschöpft vom EU-Austrittst­rudel.

Und die USA? Die werden sich unter dem künftigen Präsidente­n Joe Biden noch weiter auf die Großmacht China und den pazifische­n Raum konzentrie­ren. Was heißt das für die Nato? Nur wenn man bereit ist, sich dort ebenso zu engagieren, wird die Allianz für die USA überhaupt interessan­t bleiben. Es ist höchst zweifelhaf­t und bei der zweitägige­n Konferenz nicht geklärt worden, ob sich die Nato – über bestehende Partnersch­aften in der Region hinaus – dazu aufraffen kann. Erstens verfügt sie nicht über die materielle­n Fähigkeite­n, in Asien permanente Präsenz zu zeigen. Zweitens ist eine solche Ausrichtun­g nicht besonders attraktiv für jene Mitgliedss­taaten, die geradezu Russland fixiert sind.

Dass der Generalsek­retär zur Videokonfe­renz auch die Außenminis­ter der Ukraine und Georgiens eingeladen hat, zeigt gleichfall­s keinen Kurswechse­l in der auf militärisc­he Kraft basierende­n Ostpolitik der Nato.

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