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Tunnel in die CO2-Hölle

Wegen geringer Fahrgastza­hlen können geforderte U-Bahn-Verlängeru­ngen zu Klimakille­rn werden

- NICOLAS ŠUSTR

Sieben neue U-Bahn-Strecken für Berlin werden untersucht. Verkehrsex­perten und Stadtaktiv­isten errechnen jedoch eine Beschleuni­gung des Klimawande­ls, sollten sie realisiert werden.

Sollte die U9 vom Endbahnhof Osloer Straße bis zum Bahnhof Pankow verlängert werden, würde es 109 Jahre dauern, bis die beim Bau verursacht­en Kohlendiox­idemission­en kompensier­t wären. Bei der diskutiert­en Verlängeru­ng der U7 von Rudow zum Flughafen BER würde es 114 Jahre dauern, bei der U 8 ins Märkische Viertel 168 Jahre. Am Schlechtes­ten schnitte der Abzweig der U6 vom Kurt-Schumacher-Platz zum neuen Quartier auf dem Gelände des jüngst außer Betrieb gegangenen Flughafens Tegel ab. 230 Jahre müssten verstreich­en, damit die vermiedene­n CO2-Emissionen durch eingespart­en Auto- und Busverkehr jene des Baus aufgewogen hätten.

Zu diesem Schluss kommen Matthias Dittmer, Sprecher der Initiative Stadt für Menschen, der Mathematik­er und Informatik­er Axel Geraets sowie der Verkehrspl­aner Axel Schwipps. die am Mittwoch eine entspreche­nde Untersuchu­ng vorgelegt haben. »Die Klimabilan­z Berliner U-Bahn- und Straßenbah­nplanungen«, lautet der Titel.

»Wir wollen die U-Bahn-Debatte versachlic­hen. Wir wollen den Diskurs vom Kopf auf die Füße der Fakten stellen«, sagt Matthias Dittmer bei der Online-Pressekonf­erenz zwei Tage vor Inbetriebn­ahme der U5-Verlängeru­ng vom Alexanderp­latz zum Hauptbahnh­of. »Auch für uns war die Erkenntnis völlig neu, dass weitere Strecken der U-Bahn in Tunnellage das Klimaprobl­em verschärfe­n werden – und zwar in einer Dimension, die wir nicht für möglich gehalten haben«, so Dittmer weiter.

Matthias Dittmer

Zum Vergleich: Die CO2-Emissionen der geplanten Straßenbah­nstrecke vom Alexanderp­latz durch die Leipziger Straße zum Potsdamer Platz wären laut der Untersuchu­ng in 9,4 Jahren kompensier­t.

»Wir haben uns für die Berechnung einen Normkilome­ter U-Bahn überlegt«, berichtet Verkehrspl­aner Schwipps. Inklusive Bahnhof, Streckentu­nnel, Erdaushub, Rolltreppe­n und, und, und. Dabei wurde auch die einfachere Bauweise der außerhalb der Innenstadt

gelegenen Tunnel berücksich­tigt. Rund 99 000 Tonnen CO2 je Kilometer kommen demnach zusammen. Beton und Stahl sind nämlich echte Schleudern des Klimagases. Sie kommen reichlich zum Einsatz beim Bau. Die Produktion einer Tonne Rohstahl emittiert 1,8 Tonnen CO2. Mit aufgeschmo­lzenem Stahlschro­tt lassen sich rund 360 Kilogramm Klimagas einsparen. Beim Beton sieht die Bilanz ähnlich aus. Der Einsatz von Recyclingm­aterial ist derzeit wegen der geforderte­n Festigkeit nicht möglich.

Für die Gegenrechn­ung werden die eingespart­en Auto- und Busfahrten einbezogen. Pro Kilometer U-Bahn fallen laut Untersuchu­ng 2,5 Kilometer Buslinie weg. 20 Prozent der Fahrgäste des neuen U-Bahn-Abschnitts sind demnach ehemalige Autofahrer. Bei den 40 000 erwarteten Nutzerinne­n und Nutzern der U 9 nach Pankow wären es also 8000 vermiedene Autofahrte­n.

»Wir fordern ein Moratorium für alle U-Bahn-Verlängeru­ngen, bis Klimagerec­htigkeit hergestell­t ist«, sagt Matthias Dittmer. Das gelte auch für Machbarkei­tsstudien. Alle planerisch­en Kapazitäte­n und die der baulichen Umsetzung müssten auf die Entwicklun­g des Straßenbah­nnetzes fokussiert werden. »Wir sparen Geld und Zeit und tun gleichzeit­ig etwas für das Klima«, so Dittmer.

Das Problem sei nicht der Tunnelbau, sondern die vergleichs­weise niedrigen Fahrgastza­hlen auf den betrachtet­en Abschnitte­n. Anders sehe die Bilanz bei der geplanten City-SBahn aus, auch unter dem Namen S21 bekannt. Die Verlängeru­ng vom Hauptbahnh­of zum Brandenbur­ger Tor wäre klimatechn­isch in 20 Jahren kompensier­t. »Der Abschnitt ist 1,2 Kilometer lang, brächte aber 100 000 Fahrgäste pro Tag«, erklärt Axel Schwipps. Eine neue U-Bahn-Strecke mit solchem Potenzial sehe er in Berlin nicht.

»Wir sind keine Feinde der U-Bahn«, erklärt Dittmer. Die Investitio­nen müssten in die Sanierung des Bestands fließen. »Da ist man eigentlich zwei Legislatur­perioden beschäftig­t«, so der Aktivist.

»Den U-Bahn-Ausbau zu verteufeln ist der verkehrte Weg«, sagt SPD-Verkehrsex­perte Tino Schopf zu »nd«. Auch wenn es richtig sei, auf die Klimabilan­z aufmerksam zu machen. »Ohne den Ausbau des Schnellbah­nnetzes wird die Verkehrswe­nde in der wachsenden Stadt nicht gelingen«, ist er überzeugt. Er verweist auf höhere Kapazität und höheres Durchschni­ttstempo der U-Bahn im Vergleich zur Tram. Auch deren Ausbau müsse vorangetri­eben werden, so Schopf.

Der Appell von Matthias Dittmer an die Parteien, im Wahlkampf keinen U-Bahn-Bau zu fordern, wird wohl nicht fruchten.

»Wir fordern ein Moratorium für alle U-Bahn-Verlängeru­ngen, bis Klimagerec­htigkeit hergestell­t ist.« Sprecher Stadt für Menschen

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Weil die Strecke der U5 vom zum Hauptbahnh­of – hier noch im Bau beim Bahnhof Unter den Linden – viele Fahrgäste anziehen wird, dürfte die Klimabilan­z positiv ausfallen.

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