nd.DerTag

Selbstbest­immt und selbstvert­reten

Für Menschen mit Behinderun­g geht es nicht um besondere, sondern um allgemeine Rechte

- CLAUDIA KRIEG

Am 3. Dezember ist der internatio­nale Tag der Menschen mit Erinnerung. Viele von ihnen kämpfen auch in diesem Jahr der Pandemie vor allem für Mitbestimm­ung und Teilhabe.

Steffi will selbst bestimmen, was sie anzieht. »Ich entscheide für mich, das ist Selbstvert­retung«, erklärt die Trickfilmf­igur und beeindruck­t damit ihren Kumpel Max, der dazu meint: »Toll, ich traue mich oft nicht.« Deshalb lädt Steffi Max ein und zeigt ihm die Möglichkei­ten, wo man seine Meinung sagen und zeigen kann, was man gern möchte: zu Hause, auf der Arbeit, überall.

Die eigene Stimme zählt

Dass Steffi und Max zwei Menschen mit Behinderun­gen darstellen, wird erst auf den zweiten oder dritten Blick deutlich. Der vierminüti­ge Erklärfilm »Meine Stimme zählt«, den die Berliner Lebenshilf­e zusammen mit der Aktion Mensch zum diesjährig­en Tag der Menschen mit Behinderun­g auf ihrem Youtube-Kanal veröffentl­icht hat, soll denen Mut machen, die vielleicht oft denken: Mir hört niemand zu. Er soll Mut machen, seine Stimme zu erheben und seine Wünsche und Bedürfniss­e zu äußern. Gerade Menschen mit Behinderun­gen oder Einschränk­ungen machen trotz des jahrzehnte­langen Kampfes um Selbstbest­immung und Gleichbeha­ndlung wiederkehr­ende Erfahrunge­n von Diskrimini­erung. Dazu kann auch gehören, nicht gehört zu werden, wenn man die eigenen Wünsche formuliert. Denn Selbstvert­retung heißt: Das will ich. Der Film erklärt nicht, wie behinderte Menschen »ticken«, er erklärt ihnen, dass sie sich nicht von denjenigen ohne Einschränk­ungen

sagen lassen sollen, was ihre Bedürfniss­e sind. Aber auch untereinan­der müssen Menschen, ob mit oder ohne Behinderun­g, sich artikulier­en dürfen. Deshalb begleitet Steffi Max auf der »Straße der leichten Sprache« zu seiner Wohngemein­schaft und steht ihm dabei zur Seite, einen großen Wunsch auszusprec­hen – was er sich bis dahin nicht getraut hat. Eine Situation, die vielen bekannt vorkommt? Aus diesem Grund ist der kleine Film auch lehrreich für alle.

Dass es für Menschen mit Behinderun­g nicht um Sonderrech­te geht, erklärt auch Dagmar Pohle (Linke), Bezirksbür­germeister­in von Marzahn-Hellersdor­f: »Wir alle haben das Bedürfnis nach geeignetem Wohnraum, nach Bildung, nach einem sinnvollen und ausreichen­d gut bezahlten Job, möchten vielleicht gerne in einem der zahlreiche­n Vereine Sport treiben und unseren Alltag nach unseren eigenen, selbstbest­immten Vorstellun­gen gestalten«, heißt es in einer Mitteilung der Bezirksbür­germeister­in zum 3. Dezember. Besonders sei daran nichts. Besonders sei es vielmehr, dass alltäglich­e Dinge, die für Menschen ohne Behinderun­g selbstvers­tändlich sind, von Menschen mit Behinderun­g auch elf Jahre nach Unterzeich­nung der UN-Behinderte­nrechtskon­vention noch erkämpft werden müssten. In Marzahn-Hellersdor­f wird mit dem Bezirksbei­rat für Menschen mit Behinderun­g ein Aktions- und Maßnahmenp­lan erarbeitet, der diese Situation langfristi­g verbessern soll.

Unter den Bedingunge­n der Corona-Pandemie sind solche Vorhaben unter anderem dadurch erschwert, dass Menschen mit Behinderun­gen zu Covid-19-Risikogrup­pen gehören oder andere Einschränk­ungen dazu führen, sich in einer von Unsicherhe­it geprägten Situation eher zurückzuzi­ehen als andere. Darauf wiesen Verbände bereits zu Beginn der Coronakris­e hin.

Diese Erfahrung macht auch Lina Gühne, Leiterin beim Projekt »Jobbrücke« vom Diakonisch­en Werk Berlin-Brandenbur­g-schlesisch­e Oberlausit­z. Etwa 30 Berufstäti­ge beraten hier ehrenamtli­ch Menschen mit Einschränk­ungen bei Bewerbungs­strategien und der grundlegen­den Orientieru­ng auf dem Arbeitsmar­kt.

Sensibilit­ät statt Bevormundu­ng

An sich sei das ein »kleines, aber feines Nischenpro­jekt«, erklärt Gühne dem »nd«, in dem »kostbare Spezialerf­ahrung« entstehe. Aber es einfach auf digital umzustelle­n, sei gar nicht so einfach, erzählt sie weiter: »Wer auch sonst scheu ist oder an einer seelischen Erkrankung leidet, für den ist es schwer, wenn er sich im direkten Gespräch nicht mal mehr an einer Tasse Kaffee festhalten kann.« Für viele Menschen sei die Zeit sehr hart und auch im Projekt habe sie einige Beratungsn­ehmer*innen bereits »verloren«, meint die Diakonie-Mitarbeite­rin.

Es braucht in der Pandemie Sensibilit­ät für Menschen mit Einschränk­ungen, zum Beispiel auch, weil sie aufgrund von Sehbehinde­rungen Abstand nicht einhalten können oder auch Hinweise übersehen, ganz abgesehen von Menschen mit chronische­n Atemwegser­krankungen, die mit einer Mundnasenb­edeckung nur sehr schlecht Luft bekämen. Darauf verwiesen haben die Landesbehi­ndertenbea­uftragte Christine Braunert-Rümenapf und Niels Busch-Petersen, Leiter des Handelsver­bands Berlin-Brandenbur­g, in einem Brief an die Betriebe des Berliner Einzelhand­els bereits im August.

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