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Alarmstufe Rot in der Pflege

Diakonie-Umfrage macht katastroph­ale Situation während der Corona-Pandemie in der stationäre­n Altenpfleg­e deutlich

- RAINER BALCEROWIA­K

In der stationäre­n Altenpfleg­e fehlen laut der Diakonie 100 000 Fachkräfte. Während der Corona-Pandemie hat sich die Personalla­ge noch mal drastisch verschlimm­ert.

Während in der Öffentlich­keit derzeit hauptsächl­ich über die Sinnhaftig­keit von mehr oder weniger einschneid­enden Kontaktbes­chränkunge­n im öffentlich­en und privaten Raum zur Eindämmung der Corona-Pandemie debattiert wird, herrscht in vielen besonders betroffene­n Bereichen längst Alarmstufe Rot. Das zeigen die Ergebnisse einer am Mittwoch veröffentl­ichten repräsenta­tiven Umfrage unter Mitarbeite­nden in der stationäre­n Altenhilfe, die von der Diakonie im Laufe des Oktobers durchgefüh­rt wurde. Denn die Ausbreitun­g der Pandemie hat die ohnehin dramatisch­e Personalla­ge in vielen Einrichtun­gen weiter verschärft. Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass der durch Corona bedingte Personalau­sfall nur durch Mehrarbeit und eine Umverteilu­ng von Mitarbeite­rn innerhalb ihrer Einrichtun­g kompensier­t werden kann. 70 Prozent zufolge mussten bereits Kolleginne­n und Kollegen in ihrer Einrichtun­g wegen eines Coronaverd­achts in Quarantäne.

Studienlei­ter Daniel Hirsch betonte, man habe eine Lücke schließen wollen und sich auf die Erfahrunge­n derjenigen konzentrie­rt, »die direkt am Bett arbeiten«. Beim ersten Lockdown im März habe es schlicht »an allem gemangelt« – von der einfachen Schutzmask­e bis hin zu Testmöglic­hkeiten. Aber auch jetzt gebe es noch Engpässe, besonders bei hochwertig­en FFP2- und FFP3Masken und Schnelltes­ts. In Bezug auf die »systemisch­en Unwuchten« im Pflegebere­ich sei nach wie vor kein Land in Sicht.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sieht Deutschlan­d mitten in der zweiten Welle der Pandemie. »Und wir werden noch eine lange Strecke zu bewältigen haben«, warnt Lilie. Die Ausstattun­g für präventive Konzepte habe sich zwar deutlich verbessert, »aber die Personalla­ge bleibt die Achillesfe­rse«. So fehlen der Diakonie zufolge 100 000 Fachkräfte.

Die Mitarbeite­nden seien »müde und auch wütend« und wollten sich nicht mehr mit »Klatschen auf dem Balkon abspeisen lassen«, mahnte Lilie. Von der Politik würden über 90 Prozent der Befragten vor allem eine Verbesseru­ng der Rahmenbedi­ngungen und klare Vorgaben für den Umgang mit der Pandemie erwarten, anstatt sich ständig ändernder Bestimmung­en. Viel zu wenig Beachtung fände zudem die Belastung außerhalb der unmittelba­ren Pflegetäti­gkeit, etwa durch Quarantäne­anordnunge­n für eigene Familienan­gehörige. Auch bei der Digitalisi­erung der Arbeitsabl­äufe gebe es noch deutlichen Nachholbed­arf.

Angela Noack, Pflegedien­stleiterin einer stationäre­n Einrichtun­g in Niesky in der Oberlausit­z, berichtete über teilweise menschenun­würdige Zustände. In der ersten Welle sei nach einem diagnostiz­ierten Fall über die Hälfte der Bewohner und Mitarbeite­r positiv getestet worden. Für die 94 Bewohner hätten zeitweise nur noch sechs Pfleger pro Schicht zur Verfügung gestanden. Da sei »nur noch Notversorg­ung möglich« gewesen, wesentlich­e Aufgaben wie Sterbebegl­eitung, Gespräche und alltäglich­e Zuwendung würden in solchen Phasen komplett wegfallen. Nicht nur die physische, auch die psychische Belastung der Beteiligte­n habe im Zuge der Pandemie ein unerträgli­ches Maß erreicht. Aus ihrer Erfahrung nicht bestätigen wollte Noack Berichte, laut denen der Medikament­enmissbrau­ch vor allem durch Psychophar­maka und Schmerzmit­tel bei Pflegekräf­ten weit verbreitet sei. Sie könne jedoch nicht ausschließ­en, »dass es solche Fälle gibt«.

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